Die Gezeiten erzeugende Kraft

Skizze Aus der Addition der Flieh- und Gra­vi­ta­tions­kräfte resultiert also eine ge­zei­ten­er­zeu­gende Kraft, die von der Stellung des Mo­ndes β und der geografischen Breite φ ab­hängt.

Da die Richtungen der Fliehkraft- und An­zie­hungskraftvektoren von der geo­gra­fi­schen Breite und der Stellung des Mondes ab­hän­gen, wird das Problem schnell sehr komplex, und entzieht sich einer ein­heit­lichen ma­the­ma­ti­schen Theorie.

Die gezeitenerzeugende Kraft kann in zwei Vektorkomponenten zerlegt werden:

  1. die Vertikalkomponente, die weg vom Erdmittelpunkt gerichtet ist, und
  2. die Horizontalkomponente, die dazu senkrecht steht und entlang der Erdoberfläche wirkt.

Skizze Die erste Komponente hebt den Was­ser­spie­gel an, die zweite ver­schiebt die Was­ser­mas­sen in Rich­tung des Mondes; sie sorgt also für eine Ver­la­ge­rung der Was­ser­mas­sen in Rich­tung Mond­meri­dian und Äquator. Bei der Hori­zon­tal­kom­pon­ente haben die Flieh­kräfte in System Erde-Sonne und im System Erde-Mond — auf der abgewandten Seite — die größten An­teile.


Das hier vorgestellte Modell der Gezeitenenstehung mit den Komponenten:

  1. Massenanziehung von Erde und Mond bzw. Erde und Sonne,
  2. Fliehkraft im System Erde-Mond,
  3. Fliehkraft im System Erde-Sonne (gleichgroß wie die im System Erde-Mond),

kann eigentlich qualititiv alle Beobachtungen im Zusammenhang mit den Gezeiten erklären:

  1. es gibt täglich zwei Hochwasser im Abstand von etwa 12 h,
  2. bei Neumond fallen die Hochwasser höher aus als an den Tagen davor und danach,
  3. bei Vollmond fallen die Hochwasser niedriger aus als an den Tagen davor und danach.

Nicht erklären kann das Modell die tatsächlich beobachteten Wasserstände. Um hier Vor­her­sage­mo­delle zu entwickeln, wurden zusätzliche Phenomene diskutiert, wie die Resonanz der Wellenbewegung in den Meeresbecken, die aber alle nicht erfolgreich waren bei der Was­ser­stand­vor­her­sage. Nach der gel­tenden Theorie sind die Form des Meeresbodens, die Tiefe des Meeres, die Küstenform, im we­sent­lichen für lokale Tidenhübe verantwortlich. Die Tide, die auf dem offenen Meer auf eine Höhe von 20 cm bis 1 m geschätzt wird, führt in flachen Küstengebieten zum Aufbau einer Tidenwelle. Sie kann eine beträchtliche Höhe erreichen.

Es bleiben von der Newtonschen Theorie der Einfluß vom Stand des Mondes und der Sonne, d.h. der Zeitpunkt des Eintritts von Ebbe und Flut, und die relativen Höhen der beiden täglichen Hochwasser, sowie der jahreszeitlichen Hochwasserstände. Die absoluten, lokalen Wasserhöhen werden durch jahre­lange Beobachtungen bestimmt. Man hat also mathematische Gleichungen mit Zeitabhängigkeiten und em­pirische Parameter, mit denen die Wasserhöhen den lokalen Bedingungen angeglichen werden. Ma­the­ma­tisch erreicht man die Gezeitenvorhersage mit dem Formalismus der Partialtiden.

Im "Handbuch der Physik" von 1908 habe ich eine Zusammenfassung der mathematischen Theorie­ansätze gefunden — dort werden auch die Grenzen dieser Theorien aufgezeigt. Sie gelten im Grunde nur für eine gleichmäßig mit Wasser bedeckte Kugel (oder ein Rotationsellipsoid).

Zusammenfassung: Wie entstehen Ebbe und Flut?

Wir haben die Einflüsse der von Isaac Newton eingeführten Fliehkräfte in den beiden Rotationssystemen Erde-Mond und Erde-Sonne untersucht. (Man kann die Fliehkräfte leider nicht gemeinsam in einem System Erde-Sonne-Mond untersuchen, weil es keinen mathematischen Ansatz für das "Drei-Körper-Problem" gibt.) Die Anziehungskraft (Gravitationswirkung) ist etwa gleich groß. Mit diesen Wechselwirkungen läßt sich die Beobachtung des Wechsels von Ebbe und Flut im Tages- und Jahresrhytmus hinreichend erklären.

Skizze

Durch die Rotation der Erde mit Sonne und Mond wird die Wasserhülle in ein Rotationselipsoid geformt, dessen große Achsenebene in der Äquatorebene liegt, und die kleine um die Pole präzediert. Da die Sonne in der Ekliptik wirkt und die Mondbahn (in der Abbildung gelb gepunktet) dazu geneigt ist, wird die große Achsenebene um einen Winkel in Richtung Ekliptik (in der Abbildung gelb strich-punktiert) gezogen. Der Wert dieser Ab­len­kung wird vom Mond bestimmt und er schwankt etwas. Unter diesem Elipsoid dreht sich die Erdkugel. Zusätzlich wird die große Achsenebene in Richtung der von Sonne und Mond ausgehenden Kräfte gedehnt. So kommt es zu der beobachtbaren Abhängigkeit der Wasserhöhen von der Stellung des Mondes.


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