Die Entwicklung der Gezeitentheorien

Foto

Die erste Gezeitentheorie stammt aus Ari­sto­teles­scher Zeit. Danach gibt es eine An­zie­hungs­kraft zwi­schen dem Mond und dem Wasser. Bemerkenswert an dieser Tat­sache ist, dass

  1. der Mond für die Gezeiten verantwortlich gemacht wird, und
  2. die Attraktion von Wasser und Mond behauptet wird, die zeitgenössische Esoteriker ja auch kennen.

Im 16. Jahrhundert dann - die Italiener waren die Seehandelsmacht - erklärte Andrea Cesalpino (1519-1603) die Gezeiten in seinem Werk Quaestiones Peripatetica (1571) mit der Erdbewegung, analog der Kreiselbewegung von Wasser in einem geschwenkten Eimer.

Johannes Kepler (1571-1630) fand die Ursache für die Gezeiten in der Planetenbewegung — wo sonst, die Theorie der Planetenbewegung (Keplersche Gesetze) war ja sein Lebenswerk. René Descartes (1596-1650) erklärte sie mit einer Reibung des "Äthers" zwischen Erde und Mond. Diese Theorie war schnell widerlegt, denn sie sagte Hochwasser voraus, wenn gar keines eintrat. Galileo Gallilei (1564-1642) gab eine kinematische Erklärung und benutzte die Gezeiten als Beweis für die Erdrotation. Nach seiner Vorstellung bewegt sich die Erde um die Sonne und dreht sich gleichzeitig um sich selbst (richtig). Er nahm an, dass sich die von der Sonne angestrahlte Seite schneller als die Nachtseite bewegt (falsch), und aus den unterschiedlichen Beschleunigungen resultieren die Gezeiten.

Dann kam Isaac Newton (1642-1727), der erste Naturwissenschaftler in unserem Sinne. Er postu­lierte die Gravitationskraft, eine Anziehung von Massen (Naturgesetz). Erde und Mond bilden ein Gra­vi­ta­tion­system, das um einen Gravitationsmittelpunkt rotiert (das ist der Punkt, an dem die gemeinsamen Massen von Erde und Mond vereinigt sind wenn man von weit her auf die Erde schaut). Dieser Mittel­punkt liegt zwischen Erde und Mond ungefähr 1.600 km unter der Erdoberfläche. Dieses Gra­vi­ta­tions­zentrum wirkt ebenfalls auf das Wasser an der Erdoberfläche. Auf der dem Mond zugewandten Seite wird Ober­flächen­wasser stärker vom Gravitationszentrum angezogen als der Erdmittelpunkt, den es ist ihm näher. Auf der mondabgewandten Seite zieht das Gravitationszentrum stärker am Erdmittelpunkt als am Ober­flächen­wasser. In beiden Fällen entsteht Hochwasser.

Daniel Bernoulli (1700-1782) entwickelte diese statische Theorie weiter und nannte sie "Gleich­ge­wichts­theorie". Sie geht von der Annahme aus, dass die Erde gleichmässig von Wasser bedeckt ist und dass der Meeresspiegel sich trägheitslos auf die gezeitenerzeugenden Gravitationskräfte von Mond und Sonne einstellt. Danach müßte die Hubhöhe überall 55 cm betragen. Außerdem würde die Ge­zei­ten­welle der Meridiankulmination des Mondes folgen, was sie offensichtlich nicht tut.

Einen neuen Impuls brachte Pierre-Simon Laplace (1749-1827) mit seiner dynamischen Theorie. Er ging davon aus, dass die Erdrotation durch die Trägheit der Wassermassen eine erzwungene Be­we­gung der Ozeane erzeugt, die einer Schwingung mit der Periode der gezeitenerzeugenden Kräfte ent­spricht.

Das 19. Jahrhundert mit seinen Entdeckungen brachte neue Tidendaten, die von der Britischen Ad­mi­ra­lität akribisch gesammelt wurden. Auf der Basis dieser Datensammlung zeichnete William Whewell (1794-1866) die Stellen gleichzeitiger Gezeitenhöhe in eine Karte. Nun konnte man die Aus­brei­tung der Gezeitenwelle erkennen. Man glaubte an einen Wellenberg, der dem Mond über den süd­lichen Ozean folgt und der am Kap der Guten Hoffnung sekundäre Gezeitenwellen auslöst, die sich dann in den Atlantik ausbreiten. Diese Wellen waren aber nicht nachweisbar.

William Thomson (1824-1907) griff die Idee Laplace' wieder auf und entwickelte die harmonische Analyse (1867). Er idealisierte die Gravitationseinflüsse von Mond und Sonne in Partialtiden. Die Pa­ra­me­ter dieser Partialtidenwellen (Amplitude und Frequenz) wurde aus Tidenmessungen entwickelt (semi­empirisches Verfahren). Er entwickelte 1872 einen mechanischen Gezeitenvorhersageapparat und seine Vorhersage, dass die Präzesion der Erdpole (Frequenz 14 Monate) einen Einfluss auf die Gezeiten hat, konnte mit Computeranalysen 1950 bewiesen werden.

Sydney S. Hough (1870-1923) berücksichtigte in seiner dynamischen Theorie (1879) zusätzlich die Coriolis-Kraft und die Wassertiefe des Meeres. Beide Einfüsse haben einen entscheidenden Einfluss auf die Hubhöhe. Neben diesen Theorien, die von einer wasserbedeckten Erde ausgehen, versuchte G. B. Airy das Problem 1842 durch einfach geformte Becken mit gleichförmiger Tiefe zu lösen. Diese Ar­bei­ten setzten Henry Poincaré (1910), Joseph Proudman (1936) und Arthur Doodson (1890 - 1938) fort, die mit gro­ßem mathematischem Aufwand nachweisen konnten, dass die halb- und ganztägigen Partialtiden als Dreh­wellen (Amphidrome) auftreten, deren Lage stark von der Wassertiefe abhängt.

Diese klassischen Gezeitentheorien erklären vieles, lassen aber auch einige Fragen ungeklärt. Die natürlichen Meeresbodenformen lassen eine einheitliche mathematisch exakte Theorie einfach nicht zu. Die Übertragung der 1869 auf dem Genfer See von Francois-Alphonse Forel entdeckten Seiches (durch Winddruck und Luftdruckschwankungen verursachte Schaukelwellen) auf abgeschlossene Teil­meere durch Albert Defant (1884 - 1974) und Robert Sterneck kann die Gestalt des Meeres­beckens weit­gehend mathematisch berücksichtigen. Damit wurde die Vorhersage der Tiden und Gezeitenströme für Teil­meere (Adria, Rotes Meer, Ärmelkanal, Nordsee) möglich. Das halbempirische Verfahren wurde von Walter Hansen 1952 weiterentwickelt und führte zur Ableitung von Gezeitenverhältnissen (Nordsee) aus der Beobachtung von Gezeiten an den Küsten. Es ist so stark parametrisiert, dass es nur noch mit Computern berechnet werden kann. Nach diesem Verfahren arbeitet das BSH.


Biografische Notizen

Aristoteles
griechischer Philosoph in Athen, geb. 384 v. Chr. in Stagira, gest. 322 in Chalkis; Schüler des Plato, von dem er sich zunehmend entfernte. [zurück]
Sir George Biddell Airy
britischer Mathematiker und Astronom, geb. 27.07.1801 in Alnwick, gest. 02.01.1892 in Greenwich; wirkte in Cambridge und war Leiter des Greenwich Observatory. Arbeitete über Elastizitäts- und Schwingungstheorie, Himmelsmechanik, Erdmagnetismus, Optik (entdeckte den Astigmatismus des Auges). Stellte die Hypothese des Isostasie auf (die Kontinente schwimmen auf einer zähen Masse). [zurück]
Daniel Bernoulli
schweizerischer Mathematiker, Physiker und Mediziner, geb. 08.02.1700 in Groningen, gest. 10.01.1782 in Basel. Lieferte wesentliche Beiträge zur Theorie der Differenzialgleichungen, ist Begründer der Hydrodynamik (Bernoulli-Gleichung). [zurück]
Andrea Cesalpino
(latinisert: Caesalpinius), italienischer Philosoph, Botaniker und Mediziner, geb. um 1519 in Arezzo, gest. 23.02.1603 in Rom. Ging von der Naturphilosophie Aristoteles' aus. Entdeckte den Blutkreislauf als Leibarzt Papst Clemens' VIII. [zurück]
Albert Defant
österreichischer Geophysiker, Meteorologe und Ozeanograph, geb. 12.07.1884 in Trient, gest. 24.12.1974 in Innsbruck; Grundlegende Arbeiten zur Physik der Atmosphäre und zur Ozeanographie. [zurück]
René Descartes
(latinisiert: Renatus Cartesius), französischer Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler, geb. 31.03.1596 in La Haye, gest. 11.02.1650 in Stockholm. Formulierte als erster den Impulserhaltungssatz; publizierte eine Erklärung der Planetenbewegung, die erst durch Newtons Gravitationstheorie abgelöst wurde. Grundlegende Arbeiten in analytischer Geometrie. War überzeugt, alle Naturerscheinungen seien rational erfassbar und erklärbar. [zurück]
Francois-Alphonse Forel
Schweizer Arzt und Naturforscher, geb. 02.02.1841, gest. 07.08.1912 in Morges; begründete die Limnologie und erkannte die Seiches. [zurück]
Galileo Galilei
italienischer Mathematiker, Physiker und Philosoph; geb. 15.02.1564 in Pisa, gest. 08.01.1642 in Arcetri. Fallgesetze, Gesetze des Fadenpendels, Fernrohr, Entdecker des Jupitermonde, u.v.a.m. [zurück]
Sidney Samuel Hough
britischer Astronom, 1870 - 1923; befasste sich mit der Theorie der Gezeiten. [zurück]
Johannes Kepler
deutscher Astronom und Mathematiker; geb. 27.12.1571 in Weil, gest. 15.11.1630 in Regensburg. Stellte die naturwissenschaftliche Beobachtung über die Aussage der Bibel und vollzog den wesentlichen Schritt zur modernen Naturwissenschaft. Stellte Gesetze über die Planetenbewegung auf (Keplersche Gesetze), und arbeitete über Stereometrie (Fassregel). [zurück]
Pierre-Simon Laplace
französischer Mathematiker und Physiker; geb. 28.03.1749 in Beaumont-Auge, gest. 05.03.1827 in Paris. Bedeutende Beiträge in Himmelsmechanik und Kosmologie, Wahrscheinlichkeitstheorie und mathematischer Physik, stellte die These auf, die Sonnensysteme wären aus Gasnebeln entstanden; neben Newton Begründer der analytischen Physik. [zurück]
Sir Isaac Newton
englischer Mathematiker, Physiker und Astronom; geb. 04.01.1643 in Woolsthorpe, gest. 31.03.1727 in Kensington; bahnbrechende theoretische Ansätze über die Natur des Lichts, über Gravitation, Planetenbewegung. Begründer der theoretischen Physik und, neben Galileo Galilei, der exakten Naturwissenschaften. [zurück]
Jules Henri Poincaré
französischer Mathematiker, Physiker und Philosoph; geb. 29.04.1854 in Nancy, gest. 17.07.1912 in Paris. Bekannt durch seine bahnbrechenden Arbeiten über partielle Differenzialgleichungen, Entdecker der nicht-euklidschen Geometrie. Löste das Drei-Körper-Problem der Himmelsmechanik. Postulierte 1904, dass die Lorentz-Transformationen der Naturgesetze invariant seien, was der zentrale Gedanke der Relativitätstheorie Albert Einsteins (1905) ist. [zurück]
Sir William Thomson, Lord Kelvin of Largs
britischer Physiker; geb. 26.06.1824 in Belfast, gest. 17.12.1907 in Nethergall. Seine Hauptforschungsgebiete waren Thermodynamik, Elektrophysik, Elastizitätslehre, Hydrodanamik, Geophysik; förderte die Unterwassertelegrafie. Entdeckte den thermoelektrischen Effekt (Joule-Thomson-Effekt). Nach ihm ist die absolute Temperaturskala benannt (Grad Kelvin). [zurück]
William Whewell
englischer Philosoph und Naturwissenschaftler, geb. 24.05.1794 in Lancaster, gest. 06.03.1866 in Cambridge. Bekannt durch moralethische Schriften und sein Werk "Astronomy and general physics". [zurück]

(Quellen: Dictionary of the History of Science, W.F. Bynum, E.J. Browne, Roy Porter (Eds.), Macmillan Press, 1981; Brockhaus Enzyklopädie, 2000)


Valid HTML 4.01 © Rainer Stumpe URL: www.rainerstumpe.de