Der wahre und der scheinbare Wind

1. Berechnung des wahren Windes aus Kurs und scheinbarem Wind

Bereits im ersten Segelkurs lernt man, dass es drei Winde gibt: den wahren, den scheinbaren und den Fahrtwind. Gesegelt wird nach dem scheinbaren Wind - jedenfalls, was die Segelstellung angeht. In den Lehrbüchern findet man dann ein Diagramm und die Erklärung, der scheinbare Wind ergäbe sich durch Vektoraddition aus Fahrt- und wahrem Wind.

Winddreieck

Der wahre Wind bläst aus einer Richtung mit einer Stärke, die man beim stillstehen beobachtet. Den Fahrtwind fühlt man, wenn man bei Flaute unter Motor fährt. Bewegt man sich in einem Windfeld, dann kann man die beiden „Winde“ nicht getrennt wahrnehmen: es ergibt sich der „scheinbare“ Wind als Mischung der beiden vorgenannten Luftbewegungen.

Da „Wind“ beschrieben wird mit Richtung und Stärke, kann man ihn durch einen Pfeil symbolisieren: der Winkel zu einer vorgegebenen Referenzrichtung (beim Segeln die Nordrichtung) gibt die Windrichtung an (die Pfeilspitze zeigt in die Richtung, in die der Wind bläst!), die Länge des Pfeiles die Windstärke.

Solche Pfeile nennt man Vektoren , und man kann nach den Regeln der Vektoralgebra mit ihnen „rechnen“. Grafisch „addiert“ man Vektoren, in dem man parallel verschiebt bis das Ende des einen mit der Spitze des anderen zusammenfält. Das Additionsergebnis ist dann der Pfeil vom Ende des zweiten zur Spitze des ersten Vektors.

Mit den Augen eines Trigonometriekenners sieht man ein Dreieck mit drei Seitenlängen (den Windstärken) und drei Winkeln (den relativen Windrichtungen). Man könnte also mit dem Rechenschieber rechnen (wenn ’mal die Windanlage an Bord ausgefallen ist).

In dem Dreieck kennt man drei Stücke: den Winkel α zwischen dem Fahrtwind c und dem scheinbaren Wind b. Gesucht sind in der Regel Richtung und Stärke a des wahren Windes. Die Richtung (zu Nord) ergibt sich aus dem Winkel β, der ja der Kurswinkel ist.

Wir kennen also zwei Seiten und den eingeschlossenen Winkel - eine typische Aufgabe für den Cosinussatz:

a2 = b2 + c2 - 2·b·c·cos α
Winddreieck Skizze

Für den Rechenschieber einfacher wird die Rechnung, wenn man diese Formel umformt. Man ergänzt mit +2·b·c und -2·b·c und stellt etwas um:

a2 = (b2 + 2·b·c + c2) - (2·b·c - 2·b·c·cos α) = (b + c)2 - 2·b·c·(1 + cos α)

Da (1 + cos α) = 2·cos2(α/2) erhält man:

a2 = (b + c)2 - 4·b·c·cos2(α/2)

Mit dieser Formel muss man nur (b + c)2 und 4·b·c·cos2(α/2) notieren. Den Winkel β zwischen Kurs und wahrem Wind berechnet man mit dem Sinussatz (die Quotienten aus dem Sinus jeden Winkels und der gegenüberliegenden Seite sind gleich).

Beispielrechnung

Ein Boot segelt mit 6 kn auf Kurs 35°. Der scheinbare Wind weht mit 11 kn (4 Beaufort) aus 330°. Aus welcher Richtung und mit welcher Stärke bläst der wahre Wind?

Skizze 2

Der Winkel α beträgt α = (360° - 330°) + 35° = 65°. Mit α und den Seiten b (Stärke des scheinbaren Windes) und c (Stärke des Fahrtwindes) berechnen wir die Seitenlänge a, die die Stärke des wahren Windes repräsentiert.

a2 = (b + c)2 - 4·b·c·cos2(α/2)

Der erste Term der Gleichung ergibt (b + c)2 = (11 + 6)2 = 172 = 289. Den cos(α/2) = cos(65°/2) = cos 32,5° = 0,84 quadrieren wir (= 0,71), multiplizieren mit 4·11·6 und erhalten 187,8. Die Differenz der beiden Terme ist a2 = 289 - 187,8 = 101,4; a = 10,1.

Nach dem Sinussatz ist sin β = b/a · sin α = 11/10,1 · sin 65° = 0,987; β = 80°. Damit ist der Winkel γ zwischen scheinbarem und wahrem Wind 180° - 65° - 80° = 35°, und der wahre Wind kommt aus 330° - 35° = 295° (achterlicher als der scheinbare).


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