Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens

Notfeuer.

  1. Als N. bezeichnet man eine genossenschaftliche Veranstaltung zur Heilung und Abwehr von Vieh­krank­hei­ten durch ein im Freien entzündetes Feuer, das nach den Worten des ersten Bearbeiters dieser Er­schei­nung volkstümlichen Brauches, des Wolfenbütteler Schulrektors Joh. Reiskius (1696), "auf son­der­bare Art durch gewaltsame Bewegung oder Umdrehung aus einem Holtze und härnen oder andern dichten Stricke muß erzwungen, und mit Schwefel, Pech, Theer oder Wa­gen­schmier und Buschwerk angezündet, auch zu voller Flamme aufgetrieben werden. Darauf wird das Schwein- Kuh- und Schaff-Viehe mit Gewalt und Schlägen dreymal hindurch gejaget, um also von der ansteckenden Seuche befreyet zu seyn: Diese nennet der Bauersmann das wilde Feuer, und stehet in der Meinung, es müsse durch ein Nothfeuer von der Herde abgetrieben werden. Wes­we­gen nach gewissen hierzu aufgesuchten Holtze bey dessen Anzün­dung kein Haus-Wirth einzig Feuer halten muß, sondern alles auslöschen, und hernach von dem wieder verloschenen Nothfeuer einen Brand in seine Krippen legen, um also den angesteckten Stall von der Seuche zu saubern" Für Deutschland ist das N. zuerst im 8. Jh. belegt, doch fehlen darauf für achthundert Jahre die Zeugnisse; sie setzen erst im 16. Jh. wieder ein, führen dann aber in ununterbrochener Folge bis ins 20. Jh.
  2. Das Wort N. wird gewöhnlich auf zweifache Weise erklärt. Die meisten Forscher leiten in An­leh­nung an Grimm von der Wurzel hniudan = terere ein hnotfiur als "erriebenes Feuer" ab; so Schade, Mannhardt, Mogk. E. H. Meyer, Fehde und auch Andree halten, indem sie einfacher not = ne­ces­si­tas setzen, das N. für ein Feuer "in Zeiten der Not". Sie beziehen sich dabei z. T. gleichfalls auf Grimm, der in der Tat beide Deutungen als möglich anführt, wenngleich er der ersteren mehr zu­zu­nei­gen scheint.
    Ich habe eine die beiden anderen vereinigende dritte Erklärung vorgeschlagen: Die älteren Zeug­nis­se weisen häufig auf die Gewaltanwendung beim Feuerbereiten hin; das "gezwungen Notfewr" wird "mit großem not gezwang" erzeugt, ist "magna violentia excitatus", "aus Noth oder mit Gewalt", "durch Reiben erzwungen", wird erst sichtbar, wenn das Loch "aus hefftiger Hitze und Nothzwang Flamme geben kan", und auch nach den neueren Berichten ist "Gewalt"große Kraft und Schnel­lig­keit" erforderlich. Daraus läßt sich ein ursprüngliches not = violentia, coactio erschließen, wie es in nötigen und Notzucht (auch Notnunft) auftritt, und so hat schon Eccard unter Ablehnung anderer Deutungen das Wort abgeleitet "a veteri noeden, quod; nunc noethen enunciamus, cogere, hoc est, ignes coacti ex ligno, sive vi … eliciti". Demnach ist das N. nicht ein "notwendiges", sondern ein "genötigtes" Feuer, und seine Herstellung beschränkt sich nicht auf das ver­hält­nis­mäßig selten belegte Reiben, sondern erstreckt sich auf alle altertümlichen Erzeugungsarten. Diese Erklärung erst rückt Not und hniudan (niuwan, nuan) sprachlich und sachlich zusammen und liefert darüber hinaus einen Beitrag zur Bedeutung des Wortes Not überhaupt, wie sie schon Grimm als "Drang und Druck" gemutmaßt hat.
  3. Die Ableitung des Namens von der Art der Erzeugung ist bezeichnend, da sie das auffälligste Merkmal der ganzen Veranstaltung hervorhebt. Dies ist zudem so reich an Einzelformen, daß es darin die Feuerbereitung der gegenwärtigen Primitiven noch übertrifft, mit dem Unterschied al­ler­dings, daß es sich beim N. im allgemeinen nicht um eigentliche Handfeuerzeuge handelt, sondern entsprechend der genossenschaftlichen Weihe des Brauches um weit größere Ausmaße.
    An Erzeugungsweisen sind belegt:
    1. Feuerbohren. Eine hölzerne Quirlspindel wird auf einer hölzernen Unterlage quer zu deren Faserung um ihre Längsachse vor und zurück gedreht, bis das im Bohrloch erriebene Holzmehl verglüht. Die Drehung geschieht durch einen um die Spindel geschlungenen und von zwei Männern hin und her gezogenen Strick (Drillfeuerzeug). Als Unterlage wird ge­wöhn­lich ein durchbrochener Herd in Gestalt eines Wagenrades verwandt, und dieses Rad­feuer­zeug tritt auch in der Umkehrung auf, so daß der Pfahl in die Erde gerammt und das Rad freischwebend wie an einer Achse gedreht wird. Daneben steht als dritte Art des Feuerbohrers das Wellenfeuerzeug. Der Herd ist aufgerichtet und völlig durchbohrt; der Quirlstab, in der Waagerechten ganz durch das Bohrloch gezogen, kann also an beiden Enden gedreht werden. Zweiseitig wirksam wird dieses Wellenfeuerzeug, wenn die Rei­bungs­fläche nicht in der Mitte des Querholzes liegt, sondern an seinen Enden; man spannt es fest zwischen zwei in die Erde getriebene Pfähle, die man zu diesem Zwecke völlig durchbohrt, mit Vertiefungen versieht oder aufspaltet. Dieser waagerecht gestellte zwei­seitige Drillbohrer ist eines der am häufigsten und eindeutigsten belegten N.zeuge. Ge­le­gent­lich wird dabei auch etwas über die Größenverhältnisse berichtet: 1½ -2 Fuß ist der Querstab lang und 4 Zoll stark, während die Bohrlöcher eine Tiefe und Breite von 3 Zoll ("Untertassengröße") aufweisen. Als Kinderspiel hat sich dieses zweiseitige Wel­len­feuer­zeug bis in unsere Tage erhalten.
    2. Feuerreiben. Ein parallel zur Längsfaserung der Unterlage aufgesetzter hölzerner Schaber schleift im Herd eine Rinne aus, an deren äußerem Ende sich das erriebene Holzmehl häuft und schließlich entzündet; so haben wir jedenfalls die wohl häufigen, aber sehr knappen Angaben über dies Rinnenfeuerzeug zu deuten: "fricato de ligno", "confrictu lignorum", "durch starke Friktion zweier trockener Holzarten"; in ähnlichen Ausdrücken kennzeichnen auch die übrigen Zeugnisse dies "Reibungsfeuer". Doch erfahren wir dafür mehrfach, daß es bei dieser Feuererzeugung vor allem auf die richtige Wahl der Holzarten ankommt; als Reiber soll Eiche oder Buche, als Herd Pappel, Weide oder fette Fichte benutzt werden. Dieser strengen Scheidung, die natürlich auch auf das Feuerbohren anzuwenden ist, braucht man aber nicht die Bedeutung zuzuerkennen, die ihr Kuhn und Veckenstedt gegeben haben; eine eingehende Betrachtung vermag vielmehr zu erweisen, daß die Benutzung eines harten und eines weichen Holzes zwar förderlich, aber nicht unbedingt notwendig ist, daß der Erfolg jedenfalls nicht abhängt von einer Zuteilung des weichen Holzes auf die Unterlage und des harten auf den Reiber oder Bohrer, wenngleich dies Verfahren das häufigere zu sein scheint und Fälle vorkommen, wo das harte Holz durch Eisen oder Stein ersetzt wird. Mehrfach ist auch die Zuhilfenahme einer Drehbank bezeugt, ohne daß einwandfrei ersichtlich wird, wie man im einzelnen dabei verfuhr.
    3. Feuersägen. Die Unterlage wird quer zu ihrer Faserung mit Holz oder Metall durchsägt, wobei das erzeugte Holzmehl sich schließlich entzündet. Dies Verfahren ist beim N. selten belegt, wird aber durch sonstige Angaben beglaubigt.
    4. Feuerschleifen. Ein Stück Holz wird auf eine in Drehung gebrachte Walze gesetzt und das Holzmehl irgendwie festgehalten, bis es aufglüht. Gerade dies Festhalten ist nirgends näher beschrieben; es hat offenbar erhebliche Schwierigkeiten verursacht, was die Spärlichkeit der Zeugnisse für das Feuerschleifen erklären mag. Doch kann auch die Erzeugung auf der Drehbank in ähnlicher Weise vonstatten gegangen sein.
    5. Feuerschnüren. Ein Strick wird um einen Holzpfahl herumgeschlungen oder durch ein Bohrloch geführt und nun so lange hin und her gezogen, bis er entweder selbst oder das erriebene Holzmehl brennt. Dieses Bandfeuerzeug ist sehr häufig belegt. Es tritt vereinzelt auch in einer Umkehrung auf, so daß ein an ein gespanntes Seil geschürzter Knüppel vor und zurück gezogen wird. In anderen Berichten gleicht es dem zweiseitigen Wellenfeuerzeug, nur daß das Feuer nicht in den Lagerpunkten des Querstabes hervorgebracht wird, sondern durch Erhitzung und Entzündung des Drillstricks und seiner Reibfläche entsteht.
    6. Feuerschlagen. Das übliche Feuerschlagen mit Stahl und Stein findet sich beim N. nicht, weil es eben keine "altschöpferische Weise" ist, sondern die gebräuchlichste Art der profanen Feuergewinnung überhaupt; als der Gebrauch von Streichhölzern sich durchgesetzt hatte, war das N. nahezu ausgestorben. So wird das Feuerschlagen mitunter ausdrücklich als ungeeignet verworfen und wenn es sich trotzdem hin und wieder findet, so weicht es in Technik und Material erbeblich von dem gewöhnlichen Verfahren ab. Schon die Übertragung des Feuerschleifens auf Metall ist ein Feuerschlagen, weil hier nicht mehr ein Mehl errieben und zur Entzündung gebracht wird, sondern ein Teil des Feuerzeuges ganz aufglüht oder in glühenden Splittern abspringt. So wird in anderen Fällen das N. aus dem kalten Amboß, einem kalten Stück Eisen oder einem Hufnagel erklopft, indem diese Dinge selbst bis zum Glühen geschlagen oder die Funken aufgefangen werden.
      Besonders bei den Schlagfeuerzeugen ist die Bereitstellung eines guten Zunders von Bedeutung; aber auch die andern Berichte erzählen sehr oft ausführlich gerade von der Übertragung der Holzmehlglut auf den Scheiterhaufen, wobei Papier, Stroh, Leinen, Werg, Schwamm, alles meistens mit Pech, Teer oder Fett getränkt, dazu auch Schwefelfäden und Öllampen verwendet werden.
      Der Holzstoß selbst besteht meistens aus Stroh, Reisig, Domsträuchern und Tannenscheiten und wird dort aufgebaut, wo die Tiere nicht ausbrechen können, auf einer von Hecken oder Planken eingeschlossenen Viehtrift, in einem Hohlweg oder auf einem sonstwie geeigneten Platze.
  4. Für die Beurteilung der weiteren Einzelheiten ist wichtig, daß die Leitung sehr häufig in den Händen der weltlichen Obrigkeit liegt; Magistrat und Dorfschulze setzen den Tag fest und lassen durch Amtspersonen die Veranstaltung ansagen und überwachen. Jeder Ortsansässige steuert Brennstoff bei. Haupterfordernis ist aber, daß er vorher sein Herdfeuer löscht.
    Um die Zeit des Sonnenaufgangs beginnt die feierliche Handlung, bei der bisweilen Schweigen erforderlich, zum mindesten ratsam oder üblich ist, wenn nicht Sprüche bergesagt werden. Die Feuererzeugung selbst, zu der gelegentlich die Verwendung eines dreiarmigen Wegweiserpfahl, eines ungebrauchten Wagenrades oder eines neuen, mit einem Galgenstrick durchflochtenen Quirlseils verlangt wird, geschieht am besten durch keusche Jünglinge, die Zwillinge, Brüder oder wenigstens Gleichnamige sind.
    Dreimal wird das Vieh durchs Feuer getrieben, wie denn auch drei Scheiterhaufen von neunerlei Holz angezündet werden. Neben der Flamme sind Rauch und Asche heilkräftig, und die ausführlichen Schilderungen lassen meistens klar die unterschiedlichen Auffassungen erkennen: ob der lodernde Brand, die schwelende Glut oder die erlöschende Kohle am wirksamsten ist.
    Den Brandresten kommt aber noch eine besondere Bedeutung zu für die Veranstalter und für Haus und Hof. Man schwärzt sich mit der Kohle die Gesichter, nimmt ein brennendes Scheit mit zurück, um das Herdfeuer wieder anzuzünden, löscht es ab im Trinkwasser des Viehs, legt es in die Krippen und Tröge oder mischt die Asche ins Futter und streut sie vereinzelt wohl auch auf die Felder. — Als "Notkohlen" bezeichnete noch jüngst ein alter Lauenburger Abschabsel von Holzbrandresten eines Schadenfeuers; sie würden an "laufendem Feuer" erkrankten Schweinen zerstoßen in Milch gereicht.
  5. Das N. ist seinem Zweck nach in erster Linie ein volksmedizinisches Heilverfahren bei Viehkrankheiten, und es werden dann Rinder, Schweine, Pferde, sogar Gänse, Schafe und Ziegen über die Glut getrieben.
    Vorwiegend gilt die Kur jedoch einer ganz bestimmten Krankheit der Schweine, der Rotlaufseuche oder Bräune, dem "Feuer", "laufenden Feuer", "wilden Feuer". Die Sorge der Schweinezüchter um diese noch bis in unsere Tage hinein verheerend auftretende Infektionskrankheit spiegelt sich wieder in diesbezüglichen Ausführungen älterer landeskundlicher Zeitschriften. Sie sehen den Wert der ganzen N.veranstaltung entgegen der älteren Anschauung von einer Reinigung der vergifteten Luft durch das Feuer in der "Alteration des Schweinegeblüts", die durch den Schreck und die Anstrengung hervorgerufen werde und eine heilsame Wirkung ausübe. Eine dritte Auffassung spricht sich dahin aus, daß — similia similibus curantur — ein Feuer das andere vertreibe.
    Daneben wird nun aber das N. angewandt gegen Milzbrand sowohl bei Schweinen, als bei Rindern, gegen die "Feuerkrankheit" (wohl Rinderpest) und die Ruhr des Hornviehs und gegen die Klauenseuche. Doch auch ganz andere Übel können durch das N. beseitigt werden, so Tollwut und Ungeziefer. Auch entfachen es die Menschen zu ihrem eigenen Schutze gegen epidemisch auftretende Krankheiten, vor allem gegen die Pest.
    Das N. hat jedoch nicht nur heilende, sondern auch vorbeugende Kraft. Verschiedentlich wird berichtet, daß kranke und gesunde Tiere zusammen durch das Feuer gejagt oder nur die gesunden behandelt werden; einige Zeugnisse sprechen sogar von einer ganz unabhängig vom Ausbruch einer Seuche periodisch wiederkehrenden Entfachung eines solchen prophylaktischen N.s.
  6. Das Verbreitungsgebiet des N.s erstreckt sich über ganz Deutschland; doch ist der Brauch für den Norden und die Mitte wesentlich häufiger belegt. Grimm hat ihn bei Nordgermanen und Kelten aufgezeigt und auf ähnliche Veranstaltungen in der Antike hingewiesen. Die von ihm beigebrachten ethnographischen Parallelen hat Hofschläger erheblich vermehrt und von indogermanischem Standpunkt aus betrachtet.
    Zur Erklärung der ursprünglichen Bedeutung geht Hofschläger von der häufig auftretenden N.bezeichnung "wildes Feuer" aus, in der er den sprachlichen Rest eines absichtlich hervorgerufenen Steppenbrandes sieht, durch den die Viehzüchter der indogermanischen Urheimat die großen Insektenschwärme vertrieben; jede Art kultischen N.s sei lediglich eine Nachbildung dieses rein empirisch als nützlich erkannten Vernichtungs- und Schutzfeuers. Aber auch abgesehen von der einseitigen Deutung des Ausdrucks "wildes Feuer" bleibt diese Hypothese Hofschlägers reichlich konstruktiv. Mit einiger Sicherheit läßt sich wohl nur sagen, daß eine frühe Verschmelzung von Nützlichkeitserwägungen und Glaubensvorstellungen eingetreten ist. Mag man die Entfachung großer Feuer im Freien auf das Bestreben zurückführen, Schaden bringende Insektenschwärme zu vertilgen, unerklärt ist dann immer noch der Hauptumstand, daß man gesundes und krankes Vieh zur Bewahrung und Heilung hindurchtreibt. Das ist eine offenbare Kult- oder zum mindesten Glaubenshandlung. Dieser wird jedoch kaum eine Verehrung der Sonne oder einer bestimmten Sonnengottheit zugrunde liegen; ebensowenig ist es nötig, in der Verbrennung eines bereits verendeten Tieres ein Opfer anzunehmen, wie Jahn es unter Hinweis auf ähnliche Überlieferungen tut. Letzthin brauchbildend ist beim N. die Vorstellung von der dämonenvertreibenden, übelabwehrenden Leucht- und Brennkraft des Feuers.

Quelle:
Hanns Bächtold-Stäubl, Eduard Hoffmann-Krayer (Hersuag.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Walter de Gruyter, Berlin New York, 1987.

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