Definition der mittleren Anomalie bei KeplerVorbemerkungMeine Ableitung der Kepler-Gleichung hat über die Jahre immer wieder Kritik hervorgerufen, da andere Quellen die "mittlere Anomalie" als einen Winkel am Mittelpunkt der Ellipse angeben, bei mir ist es ein Winkel am Brennpunkt. Ich habe die Gegenargumente immer zurückgewiesen mit dem Hinweis, dass keine andere Definition schlüssig auf die Kepler-Gleichung führt. Erst im Spätherbst 2011 konnte ich einen "studierten" Astronomen und bergischen Professor nicht überzeugen. Ich entschloss mich daher, in der Originalquelle nachzusehen (Keplers Werke sind inzwischen an verschiedenen Stellen im Web in digitalisierter Form einsehbar, u. a. auch bei Google Books). Leider sind die Publikationen in lateinischer Sprache geschrieben. Da erinnerte ich mich an mein Großes Latinum, und an meinen Lehrer (StR Hans Schilcher), der keine Mühe gescheut hatte, meine Lateinnote am Schuljahresende unter 5 zu drücken; er wäre sicher stolz, hätte er die Früchte seiner Mühen in meiner Kepler Übersetzung ernten können. Ohne auf meine Mühen im Einzelnen eingehen zu wollen, ich fand im "Pars Altera" des "Liber Quintus" in Keplers "Epitomes Astronomiae Copernicanae" eine Stelle, die meine Ansicht unterstützt. (Ich habe Pars Altera übertragen und biete die transskribierte Fassung hier auf meine Website an. Weitere Teile der Übersetzung will ich im Laufe der Zeit gerne auch hier veröffentlichen.) Keplers Anleitung zur Berechnung der mittleren AnomalieDoce computare Anomaliam mediam, seu temporis moram, quam planeta consumit in arcu proposito? Erkläre wie man die mittlere Anomalie berechnet, oder die Zeitverzögerung, die der Planet benötigt in dem vorgeschlagenen Bogen? Erläuterung der Berechnung Keplers
Die Fläche des rosa Dreiecks BKA ist FBKS = ½·AB·KL. Die Strecke AB (Exzentizität) ist gegeben und KL ist durch den den Kreisbogen PK im Einheitskreis definiert: KL = sin(PK)·BP = sin(46° 18’ 51")·100.000 = 72.314. Da die Dreiecksflächen DAB und BKA ähnlich sind, und sich nur in den Höhen (DB bzw. KL) unterscheiden, kann man die Fläche FBKA durch die Multiplikation der Fläche FDBA mit dem Bruchteil von KL am Radius des Einheitskreises DB multiplizieren (Kepler multipliziert die Fläche FDBA mit KL und teilt dann durch seinen Radius des Einheitskreises (105): rejectis in fine a facto quinque figuris). Nimmt man nun die Fläche FDBA gleich in Bogensekunden, ergibt sich FBKA auch in Bogensekunden: FBKA = KL·DAB / 100.000 = 72.314·19.110" / 100.000 = 1.381.948.024" / 100.000 = 13.819" = 3° 50’ 19". (Das entspricht im Einheitskreis dem Winkel <BKA) Nun stellt Kepler fest, dass der Winkel <KBP (hier gün) den gleichen Wert hat wie der Kreisbogen PK (Beachte: dieser Winkel hat den Scheitel am Mittelpunkt der Ellipse!). Addiert man die Fläche FBKA zu diesem Sektor, erhält man die mittlere Anomalie: <KAP = 46° 18’ 51" + 3° 50’ 19" = 50° 9’ 10" (Beachte: der Scheitel dieses Winkels ist Brennpunkt A!). Die Summe der Dreiecke (die Fläche entspricht im Einheitskreis einem Winkel!) ergibt, wie man zwanglos sehen kann, den Winkel <KAP, und das ist die mittlere Anomalie. q.e.d. Die Mühe hat sich gelohnt! Mein Lateinlehrer kann stolz sein. In moderner Schreibweise (mit AB = e und dem Einheitskreisradius r = 1) ist die Fläche des gelben Dreiecks DBA FDBA = ½·e·1 = ½·e. Die Einheitskreisfläche ist F = π·12 = π; sie entspricht 360°. Und mit Keplers Argumentation ist die Fläche des rosa Dreiecks FAKB = ½·e·KL = ½·e·1·sin(PK). Warum nun rechnet Kepler die Fläche des (rechtwinkligen) gelben Dreiecks DAB in Bogensekunden um?
Kepler bezieht die Fläche FBKA des rosa Dreiecks BKA auf die des gelben FDBA, und zwar mit einem Faktor, der vom Winkel am Mittelpunkt, den der Planet vom Abhel zurückgelegt hat, FBKA = FDBA · sin (PK) = (1 / tanα · sin (PK). Mathematisch gibt Kepler den Winkel α am Brennpunkt durch die Multiplikation mit der Anzahl Bogensekunden im Kreis im Bogenmaß an. Es ist der Winkel <DAP zwischen der Apsidenlinie und der Verbindungslinie vom Brennpunkt der Ellipse zum Schnittpunkt der kleinen Halbachse mit dem Umkreis. C. F. Gauss und die mittlere Anomalie Keplers
Seit ich meine Herleitung der Kepler-Gleichung im Jahre 2003 veröffentlicht habe, wurde ich immer wieder darauf hingewiesen, dass ich den falschen Winkel als mittlere Anomalie M bezeichne. Alle anderen Quellen würden den Winkel am Mittelpunkt der Ellipse so benennen.
Ich habe bereits früh vermutet, dass die übliche Zuordnung des Winkels "mittlere Anomalie M" auf einem Mißverständnis von C. F. Gauss′s Ableitung beruht. Sie findet sich in der Übersetzung von Gauss′s Werk Theoria Motus Corporum Coelestium, und wird wohl seit 1865 so abgeschrieben. Es ist mir nun gelungen, die Stelle im Ersten Buch, Ersten Abschnitt, Kapitel 6 zu identifizieren. ![]() Der fragliche Satz im lateinischen Original lautet: Hoc modo expressa quantitas anomalia media vocatur, quae igitur in ratione temporis crescit, et quidem quotidie augmento
quod motus medius diurnus dicitur. Anomaliam mediam per M denotabimus. In der Übersetzung von Carl Hase liest sich das: Auf diese Weise ansgedrückt heisst die Grösse die mittlere Anomalie, die daher im Verhältnis der Zeit wächst und zwar täglich um das Augment
welches man die mittlere tägliche Bewegung (motus medius diurnus) nennt. Die mittlere Anomalie bezeichnen wir durch M. Um den Fehler zu finden, wird der lateinische Text analysiert. Dazu habe ich die lateinischen Worte des Gauss′schen Original mit ihrer Grundform und der grammatikalischen Form in der Tabelle zusammengefasst.
Im Hauptsatz (dem ersten Satzteil bis zum Komma) ist "quantitas" das Subjekt (steht zusammen mit seinem Adjektiv "expressa" im Nominativ!): sie wird "vocatur". Typisch würde man nun das Objekt des Satzes im Akkusativ erwarten: ein Substantiv im Akkusativ gibt es aber in ganzen Satz nicht. Aber:
Bei den Verbis, die benennen, als etwas haben, für etwas halten, zu etwas machen oder erwählen, sich als etwas zeigen ausdrücken, stehen im Activo zwei Accusative, des Objects und des Prädikats, und im Passivo zwei Nominative, des Subjects und des Prädikats, ohne daß das Deutsche zu, für, als ausgedrückt wird. Dergleichen Verba find: dicere, vocare, appellare, nominare, nuncupare, auch scribere und inscribere; ducere, habere, judicare, existimare, numerare, putare, (arbitrari) auch intelligere, agnoscere, reperire und invenire; facere (Pass. fieri), reddere, instituere, constituere, creare, deligere, designare, declarare, renunciare u. a.; sepraebere, sepraestare.
Der Satz lautet also in deutscher Sprache: Die auf diese Weise
ausgedrückte Größe wird mittlere Anomalie genannt, die im Verhältnis der Zeit zunimmt, und zwar um den täglichen Zuwachs
das mittlere tägliche Bewegung genannt wird. Die mittlere Anomalie werden wir mit M bezeichnen. Die Übersetzung ist also korrekt. Aber was meint Gauss? Gauss stellte im Kapitel 6 seines Werkes die Differentialgleichung für die Bewegung eines Planeten um die Sonne auf, unter der Prämisse, das "die Flächenräume um die den einen Brennpunkt der Ellipse einnehmende Sonne gleichförmig sei … (s. Vorrede). die Integration dieser Formel ergibt: Er fährt fort:
[Wenn man die beiden Seiten der vorstehenden Gleichung i)] auf dieselbe Art ausdrückt, läßt sich dieser Winkel in Graden beibehalten …
Beide Seiten der Gleichung i) bezeichnen also Winkel, deren rechte Seite bezeichnet er als mittlere Anomalie M. Eingestzt ergibt sich:
Das ist die von mir abgeleitete Kepler-Gleichung! Gauss hatte es schon richtig dargestellt, er wurde nur von irgendeinem späteren Autoren nicht richtig gelesen, und der Fehler dann immer wieder abgeschrieben. Auch das Vorgehen zum Finden des Planetenortes auf seiner Bahn erläutert Gauss wie ich es vorführe:
Die Gleichung XII, E = M + e sin E, die transcendent ist und eine directe Auflösung nicht zulässt, wird durch Versuche aufgelöst, indem man mit einem genäherten Werthe von E beginnt, der durch geeignete, so oft wiederholte Methoden corrigirt wird, bis er jener Gleichung genau Genüge thut, d. h. entweder mit aller der Genauigkeit, welche die Sinustafeln zulassen, oder doch mit der, welche dem vorgesteckten Ziele entspricht.
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