Zur Geschichte der (angewandten) MathematikIn der Schule war Zahlenrechnen nicht eine meiner Stärken. Aber Geometrie und Technisches Zeichnen interessierten mich. Als ich mich an die Darstellung der Trigonometrie in der Navigation machte hatte ich die — etwas naive — Vorstellung, man könnte nur mit dem Rechenschieber und ein paar Formeln den Schiffssort bestimmen. Also veruchte ich die Planetenstellungen für jeden beliebigen Zeitpunkt zu berechnen, und ich fand die Kepler-Gleichung. Da ich sie mir nicht merken wollte, musste ich verstehen, wie sie zustande kommt. Leider hatten alle Quellen, die ich fand, einen Nachteil: man konnte sie nicht schlüssig herleiten — irgendwo in den Ableitungen gab es einen Bruch in der Argumentation. Fatalerweise unternahm ich es also, sie selbst herzuleiten (was nicht schwer ist, wenn man weiß, was herauskommen soll). Dabei fand ich den Fehler der Quellen: sie stellten die Verbindung zwischen dem gleichförmigen Ablauf der Zeit (geometrisch: auf einer Kreisbahn) und der nach dem zweiten Keplerschen Gesetz ungleichmäß Umlauf eines Planeten auf einer elliptischen Bahn nicht her. Die Verbindung ist die "mittlere Anomalie", ein Winkel am Brennpunkt der Ellipse. Kaum hatte ich die Ableitung auf dieser Website veröffentlich, bekam ich Widerspruch: alle anderen Quellen bezeichneten einen Winkel am Mittelpunkt der Ellipse als "mittlere Anomalie". Ein paar Jahre lang konnte ich diese Einwände abwehren mit dem Hinweis: mit einem Winkel am Mittelpunkt kann man die die Gleichung nicht ableiten. Da aber einige der fehlerhaften Quellen durchaus vertrauens würdig waren (nicht Wikipedia!), entschloss ich mich, bei Kepler selbst nachzusehen. Inzwischen hatte Google viele Bibliotheksbestände gescannt und die alten, urheberechtefreien Werke im Web verfügbar gemacht. Die "mittlere Anomalie" fand ich im Liber Quintus seiner "Epitomes" — und siehe da: ich hatte Recht (was mich nicht überraschte). Nun machte ich mich auf den Weg, die Quelle des Mißverständnisses zu suchen. Meine Vermutung war, dass es ziemlich alt sein mußte, und ich tippte auf C. F. Gauss. In seinem Werk Theoria Motus Corporum Coelestium (1809) fand ich die vermutete Zuordnung der "mittlere Anomalie" zu einem Winkel — angeblich — am Mittelpunkt der Ellipse. Da Gauss' Werk 1865 ins Deutsche übersetzt worden war, und der Übersetzer sich nicht um die geometrischen Widersprüche scherte, kam so das Unheil in die Welt, d. i. in die astronomische Fachliteratur. Nun halte sogar ich es für verwegen, Herrn Gauss des Fehlers zu bezichtigen. Es geht also darum nachzuweisen, dass Gauss mit der Aussage: … In hac aequatione angulus auxiliaris E, qui anomalia excentrica dicitur, in partibus radii exprimi debet. Manifesto autem hunc angulum in gradibus etc. retinere licet, si modo etiam e sin E atque [kt√(1+μ)]⁄a3⁄2 eodem modo exprimantur; in minutis secundis hae quantitates exprimentur, si per numerum 206264,67 multiplicantur. Multiplicatione quantitates posterioris supersedere possumus, si statim quantitatem k in secundis expressam adhibemus, adeoque, loco valoris supra dati, statuimus k = 5548,18761″. Cuius logarithmus = 3,5500065746. — Hoc modo expressa quantitas [kt√(1+μ)]⁄a3⁄2 anomalia media vocatur, quac igitur in ratione temporis crescit …
etwas anderes gemeint hat als in der Übersetzung — die dann immer wieder zitiert wird —" heisst die Grösse [kt√(1+μ)]⁄a3⁄2 die mittlere Anomalie, die daher im Verhältnis der Zeit wächst …". Nun gestehe ich zu, dass es schwer ist, frühneuzeitliches Wissenschafts-Latein mit dem klassischen Wortschatz zu übersetzen. (Beweis: die völlig unzulänglichen neueren Überstzungen der Werke Keplers.) Ich habe mich daher zu einer Analyse der Terminologie und der Argumentationsweise des Wissenschaftslateins entschlossen. Als Standard habe ich eine lateinische (1694) und eine deutsche (1861) Ausgabe der acht Bücher des Apollonius von Perga. Das erste und das dritte Buch, auf die sich Kepler bezieht, werde ich auf dieser Seite als Volltext anbieten. Auf dieser Website vorhandene alte Quellen
Inzwischen habe ich von Herrn Walther Frederking sein Buch "Latein ohne Umwege" durchgearbeitet, und es unternommen, Immanuel Kants frühe Werke "Meditationum Quarundam De Igne" und "Monadologiam Physicam" zu übersetzen. Beim Suchen nach den von ihm verwendeten Quellen stieß ich zufällig auf Gottfried Wilhelm Leibniz′s "Explication de L′Arithmetique Binaire, und da ich 1971 meinen ersten Informatik-Schein gemacht hatte, habe ich es zum Leibniz-Jahr 2016 gleich digitalisiert. |
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