Erläuterung einer binären Arithmetik,

Die sich nur der Ziffern 0 und 1 bedient; mit Anmerkungen ihrer Verwendung, und aus der sich eine Deutung der antiken chinesischen Symbole des Fu Xi ergibt.

von Herrn Leibnitz am 5. Mai 1703.

Übersetzung des französischen Originaltextes.

Die übliche arithmetische Rechnung erfolgt in einer Progression von Zehn zu Zehn. Man verwendet zehn Ziffern, das sind 0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, die Null, Eins, und die folgenden bis einschließlich Neun bedeuten. Und wenn man zur Zehn kommt, beginnt man von vorn und schreibt die Zehn als 10; und zehnmal Zehn, oder Hundert, als 100; und zehnmal Hundert, oder Tausend, als 1000; und zehnmal Tausend als 10000. Und in dieser Weise fährt man fort.

Table des Nombres.
° ° ° ° ° 0 0
° ° ° ° ° 1 1
         
 
° ° ° ° 1 0 2
° ° ° ° 1 1 3
       

 
° ° ° 1 0 0 4
° ° ° 1 0 1 5
° ° ° 1 1 0 6
° ° ° 1 1 1 7
     


 
° ° 1 0 0 0 8
° ° 1 0 0 1 9
° ° 1 0 1 0 10
° ° 1 0 1 1 11
° ° 1 1 0 0 12
° ° 1 1 0 1 13
° ° 1 1 1 0 14
° ° 1 1 1 1 15
   



 
° 1 0 0 0 0 16
° 1 0 0 0 1 17
° 1 0 0 1 0 18
° 1 0 0 1 1 19
° 1 0 1 0 0 20
° 1 0 1 0 1 21
° 1 0 1 1 0 22
° 1 0 1 1 1 23
° 1 1 0 0 0 24
° 1 1 0 0 1 25
° 1 1 0 1 0 26
° 1 1 0 1 1 27
° 1 1 1 0 0 28
° 1 1 1 0 1 29
° 1 1 1 1 0 30
° 1 1 1 1 1 31
 




 
1 0 0 0 0 0 32
&c. &c.

Aber statt der Progression von Zehn zu Zehn[erpo­tenz], verwende ich seit vielen Jahren eine viel ein­fachere Progression, die von Zwei zu Zwei fort­schrei­tet; und ich habe festgestellt, dass es zur Voll­kom­men­heit der Wissenschaft der Zahlen1 dient. Folglich verwende ich nichts anderes als die Ziffern 0 und 1; und dann bei Zwei fange ich von vorne an. Deshalb wird Zwei hier als 10 geschrieben, und zweimal Zwei oder Vier als 100; und zweimal Vier oder Acht als 1000, und zwei­mal Acht oder Sechszehn als 10000, und so weiter. Dies ist die Tabelle der Zahlen, die man auf diese Weise fortführen kann, so weit man will.

1 0 0 4
  1 0 2
    1 1
1 1 1 7

Man sieht hier auf den ersten Blick den Grund (Ursache) für eine be­rühm­te Ei­gen­schaft dieser geometrischen Reihe durch Ver­dop­pe­lung ganzer Zahlen, die fortschreitet, wenn man je eine Zahl an den zu ihrem Grad [der Verdopplung] gehörigen Platz stellt, was dafür sorgt, die anderen ganzen Zahlen zusammenzusetzen über das doppelte der höchsten Verdopplung. Denn hier ist so zu sagen, zum Beispiel, dass 111 oder 7 die Summe ist aus Vier, Zwei und von Eins. Und dass 1101 oder 13 die Summe ist von Acht, Vier und Eins.

1 0 0 0 8
  1 0 0 4
      1 1
1 1 0 1 13

So dient diese besondere Eigenschaft [der raschen Progression geo­me­tri­schen Reihe durch Ver­dop­pe­lung der Glieder] der Dar­stel­lung großer Sum­me­nwer­te aus wenigen Glie­dern, und sie eröffnet die Möglichkeit, größte Zahlenwerte mit wenigen Stellen darzustellen.

Ist diese Darstellung der Zahlen eingeführt, dient sie zum besonders einfachen Ausführen aller Re­chen­operationen.

Zur Addition zum Beispiel.   1 1 0 6       1 0 1 5     1 1 1 0 14
.1 1 1 7   1 .0 .1 1 11   1 0 0 0 1 17
1 1 0 1 13   1 0 0 0 0 16   1 1 1 1 1 31
 
Zur Subtraktion.   1 1 0 1 13   1 0 0 0 0 16   1 1 1 1 1 31
    1 1 1 7     1 0 1 1 11   1 0 0 0 1 17
    1 1 0 6       1 0 1 5     1 1 1 0 14
 
Zur Multiplikation.       1 1 3       1 0 1 5       1 0 1 5
      1 1 3         1 1 3       1 0 1 5
      1 1       1 0 1         1 0 1  
    1 1         1 0 1       1 0 1 0    
  1 0 0 1 9     1 1 1 1 15   1 1 0 0 1 25
 
Zur Division.   15 1 1 1 1     1 0 1 5              
  3 1 1 1 1  
      1 1  

Und alle Berechnungen sind so leicht, weil man nicht zu versuchen oder zu erraten braucht, wie man es bei der gebräuchlichen Division muss. Man braucht hier nichts mehr auswendig zu lernen wie es beim üblichen Rechnen erforderlich ist, wobei man z. B. wissen muss, dass sechs und sieben zusammen 13 sind; und dass fünf multipliziert mit drei 15 ergibt, aus der Tabelle folgt das Eine mal eins ist eins, was man Pythagoräisch2 nennt. Aber alles was man hier findet und sich von der Grundlage darstellen läßt, sehen wir in den vorstehenden Beispielen unter den Zeichen ☉ und ☽.

Jedoch empfehle ich keinesfalls diese Rechenart anstelle der gewöhnlichen Zehnerpraxis. Denn außer dass man an sie gewohnt ist, man muss nicht nachdenken über was man schon auswendig gelernt hat: so ist die Zehnerpraxis viel kürzer, und die Zahlen sind weniger lang. Und wenn man die Zwöfer- oder Sechs­zehner­schritte gewohnt wäre, hätte man einen noch größeren Vorteil. Aber das Rechnen im Zweiersytsem, das heisst mit 0 und 1, entschädigt für seine Länge, es ist äußerst grundlegend für die Wissenschaft, und ermöglicht neue Erkenntnisse, die sich dann hilreich erweisen, sowohl für die Anwendung der Zahlen, und für die gesammte Geometrie; der Grund ist, dass die Zahlen auf viel einfachere Grundsätze wie 0 und 1 zurück geführt werden, das wird offenbar durch eine wunderbare Regel. Zum Beispiel in derselben Zahlentabelle erkennt man in jeder Spalte eine vorhandene Periodizität, die sich weiter fortsetzt. Die erste Spalte steht 01, in der zweiten 0011, in der dritten 0000′1111, in der vierten 0000′0000′1111′1111, und immer so weiter. Kleine Nullen in in der Tabelle füllen die leeren Stellen am Spaltenanfang aus, um diese Periodizität besser zu zeigen. Und es wurden Linien in die Tabelle eingefügt, die die Periodizitäten umschließen. Und es finden sich weiter die Quadrat-, Kubik­zah­len und die höherer Potenzen; ebenso die Zahlen des Dreiecks, der Pyramide und andere Körper, die auch eine ähnliche Periodizität haben: auf dieser Grundlage kann man die Tabelle sofort ohne zu rechnen auf­schrei­ben. Und eine Weitschweifigkeit zu Beginn, die dann im Durchschnitt beim Rechnen eingespart wird, und die unbegrenzt gültige Regel, ist unendlich vorteilhaft.

Es ist bei dieser Rechnung überraschend, dass diese Arithmetik mit 0 und 1 das Geheimnis der Linien eines alten Königs und Philosophen mit Namen Fu Xi enthält, von dem man glaubt, er habe vor mehr als 4.000 Jahren gelebt, und den die Chinesen als den Gründer ihres Reiches und ihrer Wissenschaften ansehen. Ihm werden auch die Linienfiguren zugeschrieben. Sie umfassen alles dieser Arthmetik; es genügt aber hier nur den acht Trigrammen (Cova) Ziffern zuzuweisen, die für die Grundlage stehen, wenn man der offensichtlichen Erklärung zustimmt, die voraussetztn dass erstens ein langer Strich —— die Einheit oder 1 bedeutet, und zweitens ein Doppelstrich –  – für Null oder 0 steht.

–  – —— –  – —— –  – —— –  – ——
–  – –  – —— —— –  – –  – —— ——
–  – –  – –  – –  – —— —— —— ——
0 1 0 1 0 1 0 1
0 0 1 1 0 0 1 1
0 0 0 0 1 1 1 1

0 1 10 11 100 101 110 111

1 1 2 3 4 5 6 7

Die Chinesen haben die Bedeutung der Trigramme oder Linien des Fu Xi verloren, vielleicht schon vor mehr als tausend Jahren; daraufhin suchten sie Auslegungen, die ich für abwegig halte. Von der überzeugendste wirkliche Erklärung ist die jetzige der Europäer: hier ist sie. Es ist kaum zwei Jahre her, dass ich an den berühmten französischen Jesuiten [Joachim] Bouvet3 (1656-1730), der in Peking wohnt, meinen Weise mit 0 und 1 zu rechnen geschrieben habe, und er brauchte nicht lange zu erkennen, dass es der Schlüssel zu den Zeichen des Fu Xi ist. So schrieb er mir am 14. November 1701 und schickte mir das große Bild dieses großen Fürsten der Philosophie mit 64 Zeichen, und läßt mich wenig an der Richtigkeit unserer Erklärung zweifeln; mit Sicherheit kann man sagen, dass der Pater das Rätsel des Fu Xi gelöst hat mit Hilfe meiner Mitteilung. Und weil diese Zeichen vielleicht die ältesten Darstellungen der Wissenschaft auf der Welt sind, erscheint die Wiederendeckung ihres Sinns, nach so langer Zeit, als besonders denkwürdig.

Die Übereinstimmung der Zeichen des Fu Xi mit meiner Zahlentabelle, läßt sich leichter in der Tabelle mit den führenden Nullen erkennen, die überflüssig erscheinen, aber sie dienen dem besseren Erkennen der Periodizität in den Spalten, weswegen ich sie durch kleine Kreise ersetzt habe um sie von den notwendigen (relevanten) Nullen zu unterscheiden, und dieser Einklang flößt mir großen Respekt vor den tiefsinnigen Einsichten des Fu Xi ein. Was uns jetzt einsichtig erscheint, war es über eine lange Zeitspanne überhaupt nicht. Die binäre oder dynadische Arithmetik ist in der Tat heute für einige sehr einfach denken wir, da unsere Art zu rechnen viel hilft, was es scheint dass man das Zuviel streicht. Aber die gewöhnliche Arithmetik im Zehnersystem erscheint nicht sehr alt, zumindest war sie den Griechen und Römer unbekannt, und hatten ihre Vorteile nicht. Es scheint dass in Europa Gerbert [von Aurillac]4 (950-1003) sie einführen musste, der spätere Pabst Silvester II, der sie von den Mauren in Spanien übernahm.

Es wird in China nach wie vor angenommen, dass Fu Xi der Urheber der üblichen chinesischen Zeichen ist, obwohl sie im Verlaufe der Zeit verändert wurden: sein Entwurf einer Arithmetik läßt den Schluß zu dass er dort sehr wohl etwas beachtliches im Bezug zu Zahlen und Vorstellungen gefunden hat, wenn wir die Grundlage der chinesischen Schriftzeichen entdecken können, besonders da man In China glaubt, dass er sie unter Berücksichtigung von Zahlen fest gelegt hat. Der ehrwürdige Pater Bouvet vertritt diesen Punkt nachdrücklich, und kenntnisreich und vielfach erfolgreich. Allerings habe ich niemals in der chinesischen Zeichenschrift einen naheliegenden Vorteil gesehen der in ihren Zeichen liegt für die Art zu rechnen, was sehr wichtig wäre als Mittel den menschlichen Geist zu unterstützen.


Quelle:
Memoires de l′Academie Royale de Mathematique et de Physique. De l′Année MDCCIII.
Das Faksimile des Manuskripts Leibnizs vom 15. März 1679 aus der Landesbibliothek Niedersachsen in Hannover findet man bei BibNum.
Hinweis
  1. Der Begriff bezieht sich wohl auf ein Rechenbuch (Triparty en la science des nombres von Nicolas Chuquet 1448 (Lyon).
  2. Die Bezeichnung ist mir in diesem Zusammenhang nicht nachvollziehbar. Er könnte sich auf die transzendentale Bedeutung der Eins beziehen, oder auf der Vorstellung der Pythagoräer beruhen, dass alle Phänomene sich durch Verhältnisse ganzer Zahlen darstellen lassen. Denkbar ist auch der Bezug auf die besondere Bedeutung der Zahlen der Tetraktys (1 + 2 + 3 + 4 = 10) z. B. für die Harmonie 3 : 4 = Quarte, 2 : 3 = Quinte, 1 : 2 = Oktave.
  3. Joachim Bouvet, ein französischer Jesuit und Sinologe erforschte das I Ging. Die Interpretation Leibniz′s wurde ab 1911 in China übernommen; sie gilt heute aber als "überinterpretiert".
  4. Gerbert [von Aurillac] (950-1003) war ein angesehener Mathematiker und Astronom (und Lehrer Ottos III) bevor er 999 zum Papst gewählt wurde, der 967 zu Studien der Mathematik nach Barcelona ging.
  5. Meine etwas ausführlichere Erklärung der Grundrechenarten im dualen Zahlensystem, wie ich es in der Informatikvorlesung im WS 1970/71 bei Prof. Dr. Wolfgang Händler an der Universität Erlangen-Nürnberg gelernt habe.

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