Ostwalds Volumetrische Studien über AffinitätIn seiner Magisterarbeit von 1877 untersuchte Ostwald die Volumenänderungen beim Mischen von Säuren und Basen. Er schreibt in seiner Einleitung: Die Gesetze der chemischen Verwandtschaft sind ein Problem, dessen Lösung man sich vor hundert Jahren näher glaubte, als heute. Denn noch vor dem Beginn des gegenwärtigen Zeitalters der Chemie, dem letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts, gab es eine Theorie der chemischen Verwandtschaft (die Bergmann´sche), welche alle zur Zeit bekannten Thatsachen umfasste und allgemein angenommen war. «… Auslassung» Die Aussichten, die sich hier dem weitreichenden Blick des genialen Chemikers (Anm.: bezieht sich auf ein Zitat Berthollets, das im ausgelassenen Text abgedruckt ist.) eröffnet hatten, haben sich noch nicht erfüllt. Die so überaus merkwürdigen Entdeckungen über die Gewichtsverhältnisse chemischer Verbindungen, die sich an die Namen Richter, Dalton und Berzelius knüpfen, haben seit den ersten Decennien unseres Jahrhunderts die gesammte Thätigkeit der wissenschaftlichen Chemiker in Anspruch genommen. «... Auslassung» Das … Feld der Verwandschaftslehre verödete dermassen, dass sechzig Jahre nach (Berthollet) Hermann Kopp … gestehen musste: "Die Chemie hat gegenwärtig keine Verwandtschaftslehre ..." Da sich Ostwald hier auf Jeremias Benjamin Richter bezieht, den Vater der Stöchiometrie, habe ich dessen Überlegungen aus dem Ersten Teil seiner "Stöchyometrie" und die Einleitung aus dem zweiten Teil der drei Bände von 1792 transscibiert. Sie enthält neben einer Liste von Themen der quantitativen Chemie auch eine Anleitung zum Rechnen mit Dezimalzahlen. Das Rechnen mit Dezimalzahlen wurde von Simon Stevin in seinem Traktat "De Thiende" von 1785 auf flämisch dargestellt. Bei diesem Missverhältnis unserer Kenntniss einerseits der Stoffe, die bei chemischen Vorgängen entstehen, andererseits der Kräfte, welche die letzteren bestimmen, ist es bis heute geblieben, wenn auch zugestanden werden muss, dass in neuester Zeit das Interesse für die Fragen der Verwandtschaftslehre lebhafter geworden ist. Insbesondere ist bis zum Jahr 1867 keine Arbeit zu verzeichnen, die einen wesentlichen Fortschritt in Bezug auf Gesetze der chemischen Verwandtschaft enthielte; ich erspare mir deshalb die Darstellung derselben, um sofort auf die Schrift von Guldberg und Waage: Etudes sur les affinitès chimiques (Christiana, 1867) einzugehen, die in der Geschichte der Verwandtschaftslehre Epoche macht. Dieselbe enthält nicht sowohl eine vollständige Theorie der chemischen Verwandtschaft, als wesentlich die Lösung eines besonderen Problems, der Massenwirkung. «... Auslassung» Ostwald führt dann K. Hofmanns Versuche in Kirchhoffs Labor an, chemische Veränderungen durch Bestimmung begleitender physikalischer Änderungen zu messen (1868). Und er geht auch Julius Thomsens thermochemischen Untersuchungen der Neutralisationswärmen (1869) ein. In seiner Magister Dissertation untersucht er dann die Neutralisation mit volumetrischen Methoden. Er kommt am Ende zu dem Schluss: Es muss zugestanden werden, dass noch nicht genügendes empirisches Material vorliegt, um die vorstehenden Schlüsse wissenschaftlich völlig sicher zu stellen. So beginnt er seine Doktorarbeit bei Carl Schmidt, die er 1878 vorlegt: Volumetrische und optisch-chemische Studien. In der Arbeit untersucht er die Neutralisation einer Vielzahl organischer und anorganischer Sären mit Natron (NaOH), Kali (KOH), Ammoniak, Magnesia (Mg(OH)2 und Kupferoxid (CuO). Aus den experimentellen Ergebnissen kann er aber nicht die erwartete allgemeine Gesetzmäßigkeit ableiten. In der Zwischenzeit (1874 - 1878) hatte J. W. Gibbs seine thermodynamischen Studien veröffentlicht. Er definiert die "Affinität" als "Freie Enthalpie ΔG", also die Arbeit, die sich aus einer chemischen Reaktion gewinnen läßt. Die Freie Enthalpie setzt sich aus zwei Themen zusammen: der "Enthalpie ΔH" (der Bildungswärme der Verbindung) und einem temperaturabhängigen Term T·ΔS (Gibbs-Helmholtz-Gleichung: ΔG = ΔU + p · V + T · ΔS, oder weil Chemiker bei konstantem Volumen arbeiten: ΔG = ΔH - T · ΔS. Diese Formel gilt für einphasige Einstoffsysteme. Sind i Stoffe mit jeweils n Mol vorhanden (einphasige Mehrstoffsysteme), gilt die Gleichung für jeden Stoff, im System also dU = T · dS - p · dV + Σ (μi dni). Dabei ist μi das chemische Potential des Stoffes i. Das chemische Potential μ ist eine thermodynamische Größe für die Bereitschaft des Stoffes i mit anderen zu reagieren: die zu der Zeit gesuchte "Affinität". Sie kann durch Messung thermodynamischer Eigenschaften bestimmt werden. Ostwald maß in seinen Neutralisationsexperimenten (vor Veröffentlichung der Zustandsgleichungen!) offensichtlich nur den Parameter, der Aussagen über die Bildungswärme ΔH der Salze (und des Wassers) zuließen. Ohne Berücksichtigung des zweiten — temperaturabhängigen — Terms T·ΔS (S ist die "Entropie") konnte Ostwald selbstverständlich seine experimentellen Ergebnisse nicht schlüssig interpretieren. Als Ostwald die Arbeiten Gibbs´ als einer der ersten in Europa las, erkannte er natürlich sofort ihre Bedeutung, er übersetzte sie 1892 ins Deutsche und wandte sie in der Theorie der Katalyse an. Sie wurden Grundlage seiner Energetik, mit der man aus leicht bestimmbaren thermodynamischen Größen die Richtung chemischer Reaktionen erklären kann. |
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Biografische Hinweise
Quellen
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