Titelblatt Immanuel Kant′s

Logik




Ein

Handbuch zu Vorlesungen,

herausgegeben

von

Gottlob Benjamin Jäsche.





1880.

Einleitung


I.
Begriff der Logik.

Alles in der Natur, sowohl in der leblosen als auch in der belebten Welt, geschieht nach Regeln, ob wir gleich diese Regeln nicht immer kennen. Das Wasser fällt nach Gesetzen der Schwere, und bei den Thieren geschieht die Bewegung des Gehens auch nach Regeln. Der Fisch im Wasser, der Vogel in der Luft bewegt sich nach Regeln. Die ganze Natur überhaupt ist eigentlich nichts anders als ein Zusammenhang von Erscheinungen nach Regeln; und es giebt überall keine Regellosigkeit. Wenn wir eine solche zu finden meinen, so können wir in diesem Falle nur sagen: daß uns die Regeln unbekannt sind.

Auch die Ausübung unserer Kräfte geschieht nach gewissen Regeln, die wir befolgen, zuerst derselben unbewußt, bis wir zu ihrer Erkenntniß allmählig durch Versuche und einen längern Gebrauch unserer Kräfte gelangen, ja uns am Ende dieselben so geläufig machen, daß es uns viele Mühe kostet, sie in abstracto zu denken. So ist z. B. die allgemeine Grammatik die Form einer Sprache überhaupt. Man spricht aber auch, ohne Grammatik zu kennen; und der, welcher, ohne sie zu kennen, spricht, hat wirklich eine Grammatik und spricht nach Regeln, deren er sich aber nicht bewußt ist.

So wie nun alle unsere Kräfte insgesammt, so ist auch insbesondre der Verstand bei seinen Handlungen an Regeln gebunden, die wir untersuchen können. Ja, der Verstand ist als der Quell und das Vermögen anzusehen, Regeln überhaupt zu denken. Denn so wie die Sinnlichkeit das Vermögen der Anschauungen ist, so ist der Verstand das Vermögen zu denken, d. h. die Vorstellungen der Sinne unter Regeln zu bringen. Er ist daher begierig, Regeln zu suchen, und befriedigt, wenn er sie gefunden hat. Es fragt sich also, da der Verstand die Quelle der Regeln ist, nach welchen Regeln er selber verfahre?

Denn es leidet gar keinen Zweifel: wir können nicht denken oder unsern Verstand nicht anders gebrauchen als nach gewissen Regeln. Diese Regeln können wir nun aber wieder für sich selbst denken, d. h. wir können sie ohne ihre Anwendung oder in abstracto denken. — Welches sind nun diese Regeln?


Alle Regeln, nach denen der Verstand verfährt, sind entweder nothwendig oder zufällig. Die erstern sind solche, ohne welche gar kein Gebrauch des Verstandes möglich wäre; die letztern solche, ohne welche ein gewisser bestimmter Verstandesgebrauch nicht stattfinden würde. Die zufälligen Regeln, welche von einem bestimmten Object der Erkenntniß abhängen, sind so vielfältig als diese Objecte selbst. So giebt es z. B. einen Verstandesgebrauch in der Mathematik, der Metaphysik, Moral etc. Die Regeln dieses besondern bestimmten Verstandesgebrauches in den gedachten Wissenschaften sind zufällig, weil es zufällig ist, ob ich dieses oder jenes Object denke, worauf sich diese besondern Regeln beziehen.

Wenn wir nun aber alle Erkenntniß, die wir blos von den Gegenständen entlehnen müssen, bei Seite setzen und lediglich auf den Verstandesgebrauch überhaupt reflectiren, so entdecken wir diejenigen Regeln desselben, die in aller Absicht und unangesehen aller besondern Objecte des Denkens schlechthin nothwendig sind, weil wir ohne sie gar nicht denken würden. Diese Regeln können daher auch a priori d. i. unabhängig von aller Erfahrung eingesehen werden, weil sie, ohne Unterschied der Gegenstände, bloü die Bedingungen des Verstandesgebrauchs überhaupt, er mag rein oder empirisch sein, enthalten. Und hieraus folgt zugleich, daß die allgemeinen und nothwendigen Regeln des Denkens überhaupt lediglich die Form, keinesweges die Materie desselben betreffen können. Demnach ist die Wissenschaft, die diese allgemeinen und nothwendigen Regeln enthält, blos eine Wissenschaft von der Form unsers Verstandeserkenntnisses oder des Denkens. Und wir können uns also eine Idee von der Möglichkeit einer solchen Wissenschaft machen, so wie von einer allgemeinen Grammatik, die nichts weiter als die blose Form der Sprache überhaupt enthält, ohne Wörter, die zur Materie der Sprache gehören.

Diese Wissenschaft von den nothwendigen Gesetzen des Verstandes und der Vernunft überhaupt oder, welches einerlei ist, von der blosen Form des Denkens überhaupt, nennen wir nun Logik.


Als eine Wissenschaft, die auf alles Denken überhaupt geht, unangesehen der Objecte als der Materie des Denkens ist die Logik

  1. als Grundlage zu allen andern Wissenschaften und als die Propädeutik alles Verstandesgebrauchs anzusehen. Sie kann aber auch eben darum, weil sie von allen Objecten gänzlich abstrahirt,
  2. kein Organon der Wissenschaften sein.

Unter einem Organon verstehen wir nämlich eine Anweisung, wie ein gewisses Erkenntniß zu Stande gebracht werden solle. Dazu aber gehört, daß ich das Object der, nach gewissen Regeln hervorzubringenden Erkenntniß schon kenne. Ein Organon der Wissenschaften ist daher nicht blose Logik, weil es die genaue Kenntniß der Wissenschaften, ihrer Objecte und Quellen voraussetzt. So ist z. B. die Mathematik ein vortreffliches Organon, als eine Wissenschaft, die den Grund der Erweiterung unserer Erkenntniß in Ansehung eines gewissen Vernunftgebrauches enthält. Die Logik hingegen, da sie als allgemeine Propädeutik alles Verstandes- und Vernunftgebrauchs überhaupt, nicht in die Wissenschaften gehen und deren Materie anticipiren darf, ist nur eine allgemeine Vernunftkunst (canonica Epicuri), Erkenntnisse überhaupt der Form des Verstandes gemäß zu machen, und also nur in so fern ein Organon zu nennen, daß aber freilich nicht zur Erweiterung, sondern blos zur Beurtheilung und Berichtigung unsers Erkenntnisses dient.

  1. Als eine Wissenschaft der nothwendigen Gesetze des Denkens, ohne welche gar kein Gebrauch des Verstandes und der Vernunft stattfindet, die folglich die Bedingungen sind, unter denen der Verstand einzig mit sich selbst zusammen stimmen kann und soll, die nothwendigen Gesetze und Bedingungen seines richtigen Gebrauchs, ist aber die Logik ein Kanon. Und als ein Kanon des Verstandes und der Vernunft darf sie daher auch keine Principien weder aus irgend einer Wissenschaft noch aus irgend einer Erfahrung borgen; sie muß lauter Gesetze a priori, welche nothwendig sind und auf den Verstand überhaupt gehen, enthalten.

Einige Logiker setzen zwar in der Logik psychologische Principien voraus. Dergleichen Principien aber in die Logik zu bringen, ist eben so ungereimt als Moral vom Leben herzunehmen. Nähmen wir die Principien aus der Psychologie, d. h. aus den Beobachtungen über unsern Verstand, so würden wir blos sehen, wie das Denken vor sich geht und wie es ist unter den mancherlei subjectiven Hindernissen und Bedingungen; dieses würde also zur Erkenntniß blos zufälliger Gesetze führen. In der Logik ist aber die Frage nicht nach zufälligen, sondern nach nothwendigen Regeln; nicht, wie wir denken, sondern, wie wir denken sollen. Die Regeln der Logik müssen daher nicht vom zufälligen, sondern vom nothwendigen Verstandesgebrauche hergenommen sein, den man ohne alle Psychologie bei sich findet. Wir wollen in der Logik nicht wissen, wie der Verstand ist und denkt und wie er bisher im Denken verfahren ist, sondern wie er im Denken verfahren sollte. Sie soll uns den richtigen, d. h. den mit sich selbst übereinstimmenden Gebrauch des Verstandes lehren.


Aus der gegebenen Erklärung der Logik lassen sich nun auch noch die übrigen wesentlichen Eigenschaften dieser Wissenschaft herleiten; nämlich daß sie

  1. eine Doctrin oder demonstrirte Theorie. Denn da sie sich nicht mit dem gemeinen und als solchem blos empirischen Verstandes- und Vernunftgebrauche, sondern lediglich mit den allgemeinen und nothwendigen Gesetzen des Denkens überhaupt beschäftigt; so beruht sie auf Principien a priori, aus denen alle ihre Regeln abgeleitet und bewiesen werden können, als solche, denen alle Erkenntniß der Vernunft gemäß sein müüte.

Dadurch daß die Logik als eine Wissenschaft a priori oder als eine Doctrin für einen Kanon des Verstandes- und Vernunftgebrauchs zu halten ist, unterscheidet sie sich wesentlich von der Aesthetik, die als blose Kritik des Geschmacks keinen Kanon (Gesetz), sondern nur eine Norm (Muster oder Richtschnur blos zur Beurtheilung) hat, welche in der allgemeinen Einstimmung besteht. Die Aesthetik nämlich enthält die Regeln der Uebereinstimmung des Erkenntnisses mit den Gesetzen der Sinnlichkeit; die Logik dagegen die Regeln der Uebereinstimmung des Erkenntnisses mit den Gesetzen des Verstandes und der Vernunft. Jene hat nur empirische Principien und kann also nie Wissenschaft oder Doctrin sein, wofern man unter Doctrin eine dogmatische Unterweisung aus Principien a priori versteht, wo man alles durch den Verstand ohne anderweitige, von der Erfahrung erhaltene Belehrungen einsieht, und die uns Regeln giebt, deren Befolgung die verlangte Vollkommenheit verschafft.

Manche, besonders Redner und Dichter haben versucht, über den Geschmack zu vernünfteln, aber nie haben sie ein entscheidendes Urtheil darüber fällen können. Der Philosoph Baumgarten in Frankfurt hatte den Plan zu einer Aesthetik, als Wissenschaft, gemacht. Allein richtiger hat Home die Aesthetik Kritik genannt, da sie keine Regeln a priori giebt, die das Urtheil hinreichend bestimmen, wie die Logik, sondern ihre Regeln a posteriori hernimmt, und die empirischen Gesetze, nach denen wir das Unvollkommnere und Vollkommnere (Schöne) erkennen, nur durch die Vergleichung allgemeiner macht.

Die Logik ist also mehr als blose Kritik; sie ist ein Kanon, der nachher zur Kritik dient, d. h. zum Princip der Beurtheilung alles Verstandesgebrauchs überhaupt, wiewohl nur seiner Richtigkeit in Ansehung der blosen Form, da sie kein Organon ist, so wenig als die allgemeine Grammatik.

Als Propädeutik alles Verstandesgebrauchs überhaupt unterscheidet sich die allgemeine Logik nun auch zugleich von einer andern Seite von der transscendentalen Logik, in welcher der Gegenstand selbst als ein Gegenstand des blosen Verstandes vorgestellt wird; dagegen die allgemeine Logik auf alle Gegenstände überhaupt geht.

Fassen wir nun alle wesentlichen Merkmale zusammen, die zu ausführlicher Bestimmung des Begriffs der Logik gehören, so werden wir also folgenden Begriff von ihr aufstellen müssen.

Die Logik ist eine Vernunftwissenschaft nicht der blosen Form, sondern der Materie nach; eine Wissenschaft a priori von den nothwendigen Gesetzen des Denkens, aber nicht in Ansehung besonderer Gegenstände, sondern aller Gegenstände überhaupt; — also eine Wissenschaft des richtigen Verstandes- und Vernunftgebrauchs überhaupt, aber nicht subjectiv, d. h. nicht nach empirischen (psychologischen) Principien, wie der Verstand denkt, sondern objectiv, d. i. nach Principien a priori, wie er denken soll.


II.
Haupteintheilungen der Logik. Vortrag. Nutzen dieser Wissenschaft. Abriß einer Geschichte derselben.

Die Logik wird eingetheilt

  1. in die Analytik und in die Dialektik.

Die Analytik entdeckt durch Zergliederung alle Handlungen der Vernunft, die wir beim Denken überhaupt ausüben. Sie ist also eine Analytik der Verstandes- und Vernunftform und heißt auch mit Recht die Logik der Wahrheit, weil sie die nothwendigen Regeln aller (formalen) Wahrheit enthält, ohne welche unser Erkenntniß, unangesehen der Objecte, auch in sich selbst unwahr ist. Sie ist also auch weiter nichts als ein Kanon zur Dijudication (der formalen Richtigkeit unsers Erkenntnisses).

Wollte man diese blos theoretische und allgemeine Doctrin zu einer praktischen Kunst, d. i. zu einem Organon brauchen, so würde sie Dialektik werden. Eine Logik des Scheins (ars sophistica, disputatoria), die aus einem blosen Mißbrauche der Analytik entspringt, sofern nach der blosen logischen Form der Schein einer wahren Erkenntniß, deren Merkmale doch von der Uebereinstimmung mit den Objecten, also vom Inhalte hergenommen sein müssen, erkünstelt wird.

In den vorigen Zeiten wurde die Dialektik mit großem Fleiße studirt. Diese Kunst trug falsche Grundsätze unter dem Scheine der Wahrheit vor und suchte diesen gemäß, Dinge dem Scheine nach zu behaupten. Bei den Griechen waren die Dialektiker die Sachwalter und Redner, welche das Volk leiten konnten, wohin sie wollten, weil sich das Volk durch den Schein hintergehen läßt. Dialektik war also damals die Kunst des Scheins. In der Logik wurde sie auch eine Zeitlang unter dem Namen der Disputirkunst vorgetragen, und so lange war alle Logik und Philosophie die Cultur gewisser geschwätziger Köpfe, jeden Schein zu erkünsteln. Nichts aber kann eines Philosophen unwürdiger sein als die Cultur einer solchen Kunst. Sie muß daher in dieser Bedeutung gänzlich wegfallen und statt derselben vielmehr eine Kritik dieses Scheines in die Logik eingeführt werden.

Wir würden demnach zwei Theile der Logik haben: die Analytik, welche die formalen Kriterien der Wahrheit vortrüge und die Dialektik, welche die Merkmale und Regeln enthielte, wonach wir erkennen könnten, daß etwas mit den formalen Kriterien der Wahrheit nicht übereinstimmt, ob es gleich mit denselben übereinzustimmen scheint. Die Dialektik in dieser Bedeutung würde also ihren guten Nutzen haben als Katharktikon des Verstandes.

Man pflegt die Logik ferner einzutheilen

  1. in die natürliche oder populare und in die künstliche oder wissenschaftliche Logik (logica naturalis, log. scholastica s. artificialis).

Aber diese Eintheilung ist unstatthaft. Denn die natürliche Logik oder die Logik der gemeinen Vernunft (sensus communis) ist eigentlich keine Logik, sondern eine anthropologische Wissenschaft, die nur empirische Principien hat, indem sie von den Regeln des natürlichen Verstandes und Vernunftgebrauchs handelt, die nur in concreto, also ohne Bewußtsein derselben in abstracto, erkannt werden. — Die künstliche oder wissenschaftliche Logik verdient daher allein diesen Namen, als eine Wissenschaft der nothwendigen und allgemeinen Regeln des Denkens, die unabhängig von dem natürlichen Verstandes- und Vernunftgebrauche in concreto a priori erkannt werden können und müssen, ob sie gleich zuerst nur durch Beobachtung jenes natürlichen Gebrauchs gefunden werden können.

  1. Noch eine andere Eintheilung der Logik ist die in theoretische und praktische Logik. Allein auch diese Eintheilung ist unrichtig.

Die allgemeine Logik, die, als ein bloser Kanon, von allen Objecten abstrahirt, kann keinen praktischen Theil haben. Dieses wäre eine contradictio in adjecto, weil eine praktische Logik die Kenntniß einer gewissen Art von Gegenständen, worauf sie angewandt wird, voraussetzt. Wir können daher jede Wissenschaft eine praktische Logik nennen; denn in jeder müssen wir eine Form des Denkens haben. Die allgemeine Logik, als praktisch betrachtet, kann daher nichts weiter sein als eine Technik der Gelehrsamkeit überhaupt, ein Organon der Schulmethode.

Dieser Eintheilung zufolge würde also die Logik einen dogmatischen und einen technischen Theil haben. Der erste würde die Elementarlehre, der andere die Methodenlehre heißen kö:nnen. Der praktische oder technische Theil der Logik wäre eine logische Kunst in Ansehung der Anordnung und der logischen Kunstausdrücke und Unterschiede, um dem Verstande dadurch sein Handeln zu erleichtern.

In beiden Theilen, dem technischen so wohl als dem dogmatischen, würde aber weder auf Objecte noch auf das Subject des Denkens die mindeste Rücksicht genommen werden dürfen. In der letztern Beziehung würde die Logik eingetheilt werden können

  1. in die reine und in die angewandte Logik.

In der reinen Logik sondern wir den Verstand von den übrigen Gemüthskräften ab und betrachten, was er für sich allein thut. Die angewandte Logik betrachtet den Verstand, sofern er mit den andern Gemüthskräften vermischt ist, die auf seine Handlungen einfließen und ihm eine schiefe Richtung geben, so daß er nicht nach den Gesetzen verfährt, von denen er wohl selbst einsieht, daß sie die richtigen sind. — Die angewandte Logik sollte eigentlich nicht Logik heißen. Es ist eine Psychologie, in welcher wir betrachten, wie es bei unserm Denken zuzugehen pflegt, nicht, wie es zugehen soll. Am Ende sagt sie zwar, was man thun soll, um unter mancherlei subjectiven Hindernissen und Einschränkungen einen richtigen Gebrauch vom Verstande zu machen; auch können wir von ihr lernen, was den richtigen Verstandesgebrauch befördert, die Hülfsmittel desselben oder die Heilungsmittel von logischen Fehlern und Irrthümern. Aber Propädeutik ist sie doch nicht. Denn die Psychologie, aus welcher in der angewandten Logik alles genommen werden muß, ist ein Theil der philosophischen Wissenschaften, zu denen die Logik die Propädeutik sein soll.

Zwar sagt man: die Technik, oder die Art und Weise, eine Wissenschaft zu bauen, solle in der angewandten Logik vorgetragen werden. Das ist aber vergeblich, ja sogar schädlich. Man fängt dann an zu bauen, ehe man Materialien hat und giebt wohl die Form, es fehlt aber am Inhalte. Die Technik muß bei jeder Wissenschaft vorgetragen werden.

Was endlich

  1. die Eintheilung der Logik in die Logik des gemeinen und die des speculativen Verstandes betrifft: so bemerken wir hierbei, daß diese Wissenschaft gar nicht so eingetheilt werden kann.

Sie kann keine Wissenschaft des speculativen Verstandes sein. Denn als eine Logik des speculativen Erkenntnisses oder des speculativen Vernunftgebrauchs wäre sie ein Organon anderer Wissenschaften und keine blose Propädeutik, die auf allem möglichen Gebrauch des Verstandes und der Vernunft gehen soll.

Eben so wenig kann die Logik ein Product des gemeinen Verstandes sein. Der gemeine Verstand nämlich ist das Vermögen, die Regeln des Erkenntnisses in concreto einzusehen. Die Logik soll aber eine Wissenschaft von den Regeln des Denkens in abstracto sein.

Man kann indessen den allgemeinen Menschenverstand zum Object der Logik annehmen, und in so fern wird sie von den besonderen Regeln der speculativen Vernunft abstrahiren und sich also von der Logik des speculativen Verstandes unterscheiden.


Was den Vortrag der Logik betrifft, so kann derselbe entweder scholastisch oder popular sein.

Scholastisch ist er, sofern er angemessen ist der Wißbegierde, den Fähigkeiten und der Cultur derer, die das Erkenntniß der logischen Regeln als eine Wissenschaft behandeln wollen. Popular aber, wenn er zu den Fähigkeiten und Bedürfnissen derjenigen sich herabläßt, welche die Logik nicht als Wissenschaft studiren, sondern sie nur brauchen wollen, um ihren Verstand aufzuklären. Im scholastischen Vortrage müssen die Regeln in ihrer Allgemeinheit oder in abstracto; im popularen dagegen im Besondern oder in concreto dargestellt werden. Der scholastische Vortrag ist das Fundament des popularen; denn nur derjenige kann etwas auf eine populare Weise vortragen, der es auch gründlicher vortragen könnte.

Wir unterscheiden übrigens hier Vortrag von Methode. Unter Methode nämlich ist die Art und Weise zu verstehen, wie ein gewisses Object, zu dessen Erkenntniß sie anzuwenden ist, vollständig zu erkennen sei. Sie muß aus der Natur der Wissenschaft selbst hergenommen werden und läßt sich also, als eine dadurch bestimmte und nothwendige Ordnung des Denkens, nicht ändern. Vortrag bedeutet nur die Manier, seine Gedanken andern mitzutheilen, um eine Doctrin verständlich zu machen.


Aus dem, was wir über das Wesen und den Zweck der Logik bisher gesagt haben, läßt sich nunmehr der Werth dieser Wissenschaft und der Nutzen ihres Studiums nach einem richtigen und bestimmten Maaßstabe schätzen.

Die Logik ist also zwar keine allgemeine Erfindungskunst und kein Organon der Wahrheit; keine Algebra, mit deren Hülfe sich verborgene Wahrheiten entdecken ließen.

Wohl aber ist sie nützlich und unentbehrlich als eine Kritik der Erkenntniß, oder zu Beurtheilung der gemeinen so wohl als der speculativen Vernunft, nicht um sie zu lehren, sondern nur um sie correct und mit sich selbst übereinstimmend zu machen. Denn das logische Princip der Wahrheit ist Uebereinstimmung des Verstandes mit seinen eigenen allgemeinen Gesetzen.


Was endlich die Geschichte der Logik betrifft, so wollen wir hierüber nur Folgendes anführen:

Die jetzige Logik schreibt sich her von Aristoteles Analytik. Dieser Philosoph kann als der Vater der Logik angesehen werden. Er trug sie als Organon vor und theilte sie ein in Analytik und Dialektik. Seine Lehrart ist sehr scholastisch und geht auf die Entwickelung der allgemeinsten Begriffe, die der Logik zum Grunde liegen, wovon man indessen keinen Nutzen hat, weil fast Alles auf blose Subtilitäten hinausläuft, außer daß man die Benennungen verschiedener Verstandeshandlungen daraus gezogen.

Uebrigens hat die Logik von Aristoteles Zeiten her an Inhalt nicht viel gewonnen und das kann sie ihrer Natur nach auch nicht. Aber sie kann wohl gewinnen in Ansehung der Genauigkeit, Bestimmtheit und Deutlichkeit. Es giebt nur wenige Wissenschaften, die in einen beharrlichen Zustand kommen können, wo sie nicht mehr verändert werden. Zu diesen gehört die Logik und auch die Metaphysik. Aristoteles hatte keinen Moment des Verstandes ausgelassen; wir sind darin nur genauer, methodischer und ordentlicher.

Von Lambert′s Organon glaubte man zwar, daß es die Logik sehr vermehren würde. Aber es enthält weiter nichts mehr als nur subtilere Eintheilungen, die, wie alle richtigen Subtilitäten wohl den Verstand schärfen, aber von keinem wesentlichen Gebrauche sind.

Unter den neuern Weltweisen giebt es zwei, welche die allgemeine Logik in Gang gebracht haben: Leibniz und Wolff.

Malebranche und Locke haben keine eigentliche Logik abgehandelt, da sie auch vom Inhalte der Erkenntniß und vom Ursprunge der Begriffe handeln.

Die allgemeine Logik von Wolff ist die beste, welche man hat. Einige haben sie mit der Aristotelischen verbunden, wie z. B. Reusch.

Baumgarten, ein Mann, der hierin viel Verdienst hat, concentrirte die Wolffische Logik, und Meier commentirte dann wieder über Baumgarten.

Zu den neuern Logikern gehört auch Crusius, der aber nicht bedachte, was es mit der Logik für eine Bewandtniß habe. Denn seine Logik enthält metaphysische Grundsätze und überschreitet also in so fern die Grenzen dieser Wissenschaft; überdies stellt sie ein Kriterium der Wahrheit auf, das kein Kriterium sein kann, und läßt also in so fern allen Schwärmereien freien Lauf.

In den jetzigen Zeiten hat es eben keinen berühmten Logiker gegeben, und wir brauchen auch zur Logik keine neuen Erfindungen, weil sie blos die Form des Denkens enthält.


III.
Begriff von der Philosophie überhaupt. Philosophie nach dem Schulbegriffe und nach dem Weltbegriffe betrachtet. Wesentliche Erfordernisse und Zwecke des Philosophirens. Allgemeinste und höchste Aufgaben dieser Wissenschaft.

Es ist zuweilen schwer, das, was unter einer Wissenschaft verstanden wird, zu erklären. Aber die Wissenschaft gewinnt an Präcision durch Festsetzung ihres bestimmten Begriffs, und es werden so manche Fehler aus gewissen Gründen vermieden, die sich sonst einschleichen, wenn man die Wissenschaft noch nicht von den mit ihr verwandten Wissenschaften unterscheiden kann.

Ehe wir indessen eine Definition von Philosophie zu geben versuchen, müssen wir zuvor den Charakter der verschiedenen Erkenntnisse selbst untersuchen und, da philosophische Erkenntnisse zu den Vernunfterkenntnissen gehören, insbesondre erklären, was unter diesen letztern zu verstehen sei.

Vernunfterkenntnisse werden den historischen Erkenntnissen entgegengesetzt. Jene sind Erkenntnisse aus Principien (ex principiis); diese Erkenntnisse aus Daten (ex datis). — Eine Erkenntniß kann aber aus der Vernunft entstanden und demohngeachtet historisch sein; wie wenn z. B. ein bloser Literator die Producte fremder Vernunft lernt, so ist sein Erkenntniß von dergleichen Vernunftproducten blos historisch.

Man kann nämlich Erkenntnisse unterscheiden

  1. nach ihrem objectiven Ursprunge, d. i. nach den Quellen, woraus eine Erkenntniß allein möglich ist. In dieser Rücksicht sind alle Erkenntnisse entweder rational oder empirisch;
  2. nach ihrem subjectiven Ursprunge, d. i. nach der Art, wie eine Erkenntniß von den Menschen kann erworben werden. Aus diesem letztern Gesichtspunkte betrachtet, sind die Erkenntnisse entweder rational oder historisch, sie mögen an sich entstanden sein, wie sie wollen. Es kann also objectiv etwas ein Vernunfterkenntniß sein, was subjectiv doch nur historisch ist.

Bei einigen rationalen Erkenntnissen ist es schädlich, sie blos historisch zu wissen, bei andern hingegen ist dieses gleichgültig. So weiß z. B. der Schiffer die Regeln der Schiffahrt historisch aus seinen Tabellen; und das ist für ihn genug. Wenn aber der Rechtsgelehrte die Rechtsgelehrsamkeit blos historisch weiß, so ist er zum ächten Richter und noch mehr zum Gesetzgeber völlig verdorben.

Aus dem angegebenen Unterschiede zwischen objectiv und subjectiv rationalen Erkenntnissen erhellt nun auch, daß man Philosophie in gewissem Betracht lernen könne, ohne philosophiren zu können. Der also eigentlich Philosoph werden will, muß sich üben, von seiner Vernunft einen freien und keinen blos nachahmenden und, so zu sagen, mechanischen Gebrauch zu machen.


Wir haben die Vernunfterkenntnisse für Erkenntnisse aus Principien erklärt und hieraus folgt: daß sie a priori sein müssen. Es giebt aber zwei Arten von Erkenntnissen, die beide a priori sind, dennoch aber viele namhafte Unterschiede haben, nämlich Mathematik und Philosophie.

Man pflegt zu behaupten, daß Mathematik und Philosophie dem Objecte nach von einander unterschieden wären, indem die erstere von der Quantität, die letztere von der Qualität handele. Alles dieses ist falsch. Der Unterschied dieser Wissenschaften kann nicht auf dem Objecte beruhen; denn Philosophie geht auf alles, also auch auf quanta, und Mathematik zum Theil auch, sofern alles eine Größe hat. Nur die verschiedene Art des Vernunfterkenntnisses oder Vernunftgebrauches in der Mathematik und Philosophie macht allein den specifischen Unterschied zwischen diesen beiden Wissenschaften aus. Philosophie nämlich ist die Vernunfterkenntniß aus blosen Begriffen, Mathematik hingegen die Vernunfterkenntniß aus der Construction der Begriffe.

Wir construiren Begriffe, wenn wir sie in der Anschauung a priori ohne Erfahrung darstellen oder, wenn wir den Gegenstand in der Anschauung darstellen, der unserm Begriffe von demselben entspricht. Der Mathematiker kann sich nie seiner Vernunft nach blosen Begriffen, der Philosoph ihrer nie durch Construction der Begriffe bedienen. In der Mathematik braucht man die Vernunft in concreto, die Anschauung ist aber nicht empirisch, sondern man macht sich hier etwas a priori zum Gegenstande der Anschauung.

Und hierin hat also, wie wir sehen, die Mathematik einen Vorzug vor der Philosophie, daß die Erkenntnisse der erstern intuitive, die der letztern hingegen nur discursive Erkenntnisse sind. Die Ursache aber, warum wir in der Mathematik mehr die Größen erwägen, liegt darin, daß die Größen in der Anschauung a priori können construirt werden, die Qualitäten dagegen sich nicht in der Anschauung darstellen lassen.


Philosophie ist also das System der philosophischen Erkenntnisse oder der Vernunfterkenntnisse aus Begriffen. Das ist der Schulbegriff von dieser Wissenschaft. Nach dem Weltbegriffe ist sie die Wissenschaft von den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft. Dieser hohe Begriff giebt der Philosophie Würde, d. i. einen absoluten Werth. Und wirklich ist sie es auch, die allein nur innern Werth hat, und allen andern Erkenntnissen erst einen Werth giebt.

Man frägt doch immer am Ende, wozu dient das Philosophiren und der Endzweck desselben, — die Philosophie selbst als Wissenschaft nach dem Schulbegriffe betrachtet?

In dieser scholastischen Bedeutung des Worts geht Philosophie nur auf Geschicklichkeit; in Beziehung auf den Weltbegriff dagegen auf die Nützlichkeit. In der erstern Rücksicht ist sie also eine Lehre der Geschicklichkeit; in der letztern, eine Lehre der Weisheit die Gesetzgeberin der Vernunft und der Philosoph in so fern nicht Vernunftkünstler, sondern Gesetzgeber.

Der Vernunftkünstler oder, wie Sokrates ihn nennt, der Philodox, strebt blos nach speculativem Wissen, ohne darauf zu sehen, wie viel das Wissen zum letzten Zwecke der menschlichen Vernunft beitrage; er giebt Regeln für den Gebrauch der Vernunft zu allerlei beliebigen Zwecken. Der praktische Philosoph, der Lehrer der Weisheit durch Lehre und Beispiel, ist der eigentliche Philosoph. Denn Philosophie ist die Idee einer vollkommenen Weisheit, die uns die letzten Zwecke der menschlichen Vernunft zeigt.

Zur Philosophie nach dem Schulbegriffe gehören zwei Stücke:

  • erstlich ein zureichender Vorrath von Vernunfterkenntnissen,
  • fürs andere: ein systematischer Zusammenhang dieser Erkenntnisse oder eine Verbindung derselben in der Idee eines Ganzen.

Einen solchen streng systematischen Zusammenhang verstattet nicht nur die Philosophie, sondern sie ist sogar die einzige Wissenschaft, die im eigentlichsten Verstande einen systematischen Zusammenhang hat und allen andern Wissenschaften systematische Einheit giebt.

Was aber Philosophie nach dem Weltbegriffe (in sensu cosmico) betrifft: so kann man sie auch eine Wissenschaft von der höchsten Maxime des Gebrauchs unserer Vernunft nennen, sofern man unter Maxime das innere Princip der Wahl unter verschiedenen Zwecken versteht.

Denn Philosophie in der letztern Bedeutung ist ja die Wissenschaft der Beziehung alles Erkenntnisses und Vernunftgebrauchs auf den Endzweck der menschlichen Vernunft, dem, als dem obersten, alle andern Zwecke subordinirt sind und sich in ihm zur Einheit vereinigen müssen.

Das Feld der Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung läßt sich auf folgende Fragen bringen:

  1. Was kann ich wissen?
  2. Was soll ich thun?
  3. Was darf ich hoffen?
  4. Was ist der Mensch?

Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion und die vierte die Anthropologie. Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen.

Der Philosoph muß also bestimmen können

  1. die Quellen des menschlichen Wissens,
  2. den Umfang des möglichen und nützlichen Gebrauchs alles Wissens, und endlich
  3. die Grenzen der Vernunft.

Das letztere ist das nöthigste aber auch das schwerste, um das sich aber der Philodox nicht bekümmert.

Zu einem Philosophen gehören hauptsächlich zwei Dinge: 1) Cultur des Talents und der Geschicklichkeit, um sie zu allerlei Zwecken zu gebrauchen. 2) Fertigkeit im Gebrauch aller Mittel zu beliebigen Zwecken. Beides muß vereinigt sein; denn ohne Kenntnisse wird man nie ein Philosoph werden, aber nie werden auch Kenntnisse allein den Philosophen ausmachen, wofern nicht eine zweckmäßige Verbindung aller Erkenntnisse und Geschicklichkeiten zur Einheit hinzukommt und eine Einsicht in die Uebereinstimmung derselben mit den höchsten Zwecken der menschlichen Vernunft.

Es kann sich überhaupt keiner einen Philosophen nennen, der nicht philosophiren kann. Philosophiren läßt sich aber nur durch Uebung und selbsteigenen Gebrauch der Vernunft lernen.

Wie sollte sich auch Philosophie eigentlich lernen lassen? — Jeder philosophische Denker baut, so zu sagen, auf den Trümmern eines Andern sein eigenes Werk, nie aber ist eines zu Stande gekommen, das in allen seinen Theilen beständig gewesen wäre. Man kann daher schon aus dem Grunde Philosophie nicht lernen, weil sie noch nicht gegeben ist. Gesetzt aber auch, es wäre eine wirklich vorhanden: so würde doch keiner, der sie auch lernte, von sich sagen können, daß er ein Philosoph sei, denn seine Kenntniß davon wäre doch immer nur subjectiv-historisch.

In der Mathematik verhält sich die Sache anders. Diese Wissenschaft kann man wohl gewissermaßen lernen, denn die Beweise sind hier so evident, daß ein jeder davon überzeugt werden kann; auch kann sie ihrer Evidenz wegen als eine gewisse und beständige Lehre, gleichsam aufbehalten werden.

Der philosophiren lernen will, darf dagegen alle Systeme der Philosophie nur als Geschichte des Gebrauchs der Vernunft ansehen und als Objecte der Uebung seines philosophischen Talents.

Der wahre Philosoph muß also als Selbstdenker einen freien und selbsteigenen, keinen sklavisch nachahmenden Gebrauch von seiner Vernunft machen. Aber auch keinen dialektischen, d. i. keinen solchen Gebrauch, der nur darauf abzweckt, den Erkenntnissen einen Schein von Wahrheit und Weisheit zu geben. Dieses ist das Geschäft des blosen Sophisten, aber mit der Würde des Philosophen, als eines Kenners und Lehrers der Weisheit, durchaus unverträglich.

Denn Wissenschaft hat einen innern, wahren Werth nur als Organ der Weisheit. Als solches ist sie ihr aber auch unentbehrlich, so da man wohl behaupten darf: Weisheit ohne Wissenschaft sei ein Schattenriß von einer Vollkommenheit, zu der wir nie gelangen werden.

Der die Wissenschaft haßt, um desto mehr aber die Weisheit liebt, den nennt man einen Misologen. Die Misologie entspringt gemeiniglich aus einer Leerheit von wissenschaftlichen Kenntnissen und einer gewissen damit verbundenen Art von Eitelkeit. Zuweilen verfallen aber auch diejenigen in den Fehler der Misologie, welche anfangs mit großem Fleiße und Glücke den Wissenschaften nachgegangen waren, am Ende aber in ihrem ganzen Wissen keine Befriedigung fanden.

Philosophie ist die einzige Wissenschaft, die uns diese innere Genugthuung zu verschaffen weiß, denn sie schließt gleichsam den wissenschaftlichen Zirkel und durch sie erhalten sodann erst die Wissenschaften Ordnung und Zusammenhang.

Wir werden also zum Behuf der Uebung im Selbstdenken oder Philosophiren mehr auf die Methode unsers Vernunftgebrauchs zu sehen haben als auf die Sätze selbst, zu denen wir durch dieselbe gekommen sind.


IV.
Kurzer Abriß einer Geschichte der Philosophie.

Es macht einige Schwierigkeit, die Grenzen zu bestimmen, wo der gemeine Verstandesgebrauch aufhört und der speculative anfängt, oder, wo gemeine Vernunfterkenntniß Philosophie wird.

Indessen giebt es doch hier ein ziemlich sicheres Unterscheidungsmerkmal, nämlich folgendes:

Die Erkenntniß des Allgemeinen in abstracto ist speculative Erkenntniß; die Erkenntniß des Allgemeinen in concreto gemeine Erkenntniß. Philosophische Erkenntniß ist speculative Erkenntniß der Vernunft und sie fängt also da an, wo der gemeine Vernunftgebrauch anhebt, Versuche in der Erkenntniß des Allgemeinen in abstracto zu machen.

Aus dieser Bestimmung des Unterschiedes zwischen gemeinem und speculativem Vernunftgebrauche läßt sich nun beurtheilen, von welchem Volke man den Anfang des Philosophirens datiren müsse. Unter allen Völkern haben also die Griechen erst angefangen zu philosophiren. Denn sie haben zuerst versucht, nicht an dem Leitfaden der Bilder die Vernunfterkenntnisse zu cultiviren, sondern in abstracto; statt daß die andern Völker sich die Begriffe immer nur durch Bilder in concreto verständlich zu machen suchten. So giebt es noch heutiges Tages Völker, wie die Chinesen und einige Indianer, die zwar von Dingen, welche blos aus der Vernunft hergenommen sind, als von Gott, der Unsterblichkeit der Seele u. dgl. m. handeln, aber doch die Natur dieser Gegenstände nicht nach Begriffen und Regeln in abstracto zu erforschen suchen. Sie machen hier keine Trennung zwischen dem Vernunftgebrauche in concreto und dem in abstracto. Bei den Persern und Arabern findet sich zwar einiger speculativer Vernunftgebrauch, allein die Regeln dazu haben sie vom Aristoteles, also doch von den Griechen entlehnt. In Zoroaster′s Zendavesta entdeckt man nicht die geringste Spur von Philosophie. Eben dieses gilt auch von der gepriesenen ägyptischen Weisheit, die in Vergleichung mit der griechischen Philosophie ein bloses Kinderspiel gewesen ist.

Wie in der Philosophie, so sind auch in Ansehung der Mathematik die Griechen die ersten gewesen, welche diesen Theil des Vernunfterkenntnisses nach einer speculativen, wissenschaftlichen Methode cultivirten, indem sie jeden Lehrsatz aus Elementen demonstrirt haben.

Wenn und wo aber unter den Griechen der philosophische Geist zuerst entsprungen sei, das kann man eigentlich nicht bestimmen.

Der erste, welcher den Gebrauch der speculativen Vernunft einführte, und von dem man auch die ersten Schritte des menschlichen Verstandes zur wissenschaftlichen Cultur herleitete, ist Thales, der Urheber der Ionischen Secte. Er führte den Beinamen Physiker, wiewohl er auch Mathematiker war; so wie überhaupt Mathematik der Philosophie immer vorangegangen ist.

Uebrigens kleideten die ersten Philosophen Alles in Bilder ein. Denn Poesie, die nichts anderes ist als eine Einkleidung der Gedanken in Bilder, ist älter als die Prose. Man mußte sich daher anfangs selbst bei Dingen, die lediglich Objecte der reinen Vernunft sind, der Bildersprache und poetischen Schreibart bedienen. Pherekydes soll der erste prosaische Schriftsteller gewesen sein.

Auf die Jonier folgten die Eleatiker. Der Grundsatz der Eleatischen Philosophie und ihres Stifters Xenophanes war; in den Sinnen ist Täuschung und Schein, nur im Verstande allein liegt die Quelle der Wahrheit.

Unter den Philosophen dieser Schule zeichnete sich Zeno als ein Mann von großem Verstande und Scharfsinne und als ein subtiler Dialektiker aus.

Die Dialektik bedeutete anfangs die Kunst des reinen Verstandesgebrauchs in Ansehung abstracter, von aller Sinnlichkeit abgesonderter Begriffe. Daher die vielen Lobeserhebungen dieser Kunst bei den Alten. In der Folge, als diejenigen Philosophen, welche gänzlich das Zeugniß der Sinne verwarfen, bei dieser Behauptung nothwendig auf viele Subtilitäten verfallen mußten, artete Dialektik in die Kunst aus, jeden Satz zu behaupten und zu bestreiten. Und so ward sie eine blose Uebung für die Sophisten, die über alles raisonniren wollten und sich darauf legten, dem Scheine den Anstrich des Wahren zu geben und schwarz weiß zu machen. Deswegen wurde auch der Name Sophist, unter dem man sich sonst einen Mann dachte, der über alle Sachen vernünftig und einsichtsvoll reden konnte, jetzt so verhaßt und verächtlich und statt desselben der Name Philosoph eingeführt.


Um die Zeit der Ionischen Schule stand in Groß-Griechenland ein Mann von seltsamem Genie auf, welcher nicht nur auch eine Schule errichtete, sondern zugleich ein Project entwarf und zu Stande brachte, das seines Gleichen noch nie gehabt hatte. Dieser Mann war Pythagoras, zu Samos geboren. — Er stiftete nämlich eine Societät von Philosophen, die durch das Gesetz der Verschwiegenheit zu einem Bunde unter sich vereinigt waren. Seine Zuhörer theilte er in zwei Klassen ein; in die der Akusmatiker (ακογσυαθικοι), die blos hören mußten, und die der Akroamatiker (ακροαμαθικοι), die auch fragen durften.

Unter seinen Lehren gab es einige exoterische, die er dem ganzen Volke vortrug; die übrigen waren geheim und esoterisch, nur für die Mitglieder seines Bundes bestimmt, von denen er einige in seine vertrauteste Freundschaft aufnahm und von den übrigen ganz absonderte. Zum Vehikel seiner geheimen Lehren machte er Physik und Theologie, also die Lehre des Sichtbaren und des Unsichtbaren. Auch hatte er verschiedene Symbole, die vermuthlich nichts Anders als gewisse Zeichen gewesen sind, welche den Pythagoräern dazu gedient haben, sich untereinander zu verständigen.

Der Zweck seines Bundes scheint kein anderer gewesen zu sein, als: die Religion von dem Wahn des Volks zu reinigen, die Tyrannei zu mäßigen und mehrere Gesetzmäßigkeit in die Staaten einzuführen. Dieser Bund aber, den die Tyrannen zu fürchten anfingen, wurde kurz vor Pythagoras Tode zerstört, und diese philosophische Gesellschaft aufgelöst, theils durch Hinrichtung, theils durch die Flucht und Verbannung des größten Theils der Verbündeten. Die Wenigen, welche noch übrig blieben, waren Novizen. Und da diese nicht viel von des Pythagoras eigenthümlichen Lehren wußten, so kann man davon auch nichts Gewisses und Bestimmtes sagen. In der Folge hat man dem Pythagoras, der übrigens auch ein sehr mathematischer Kopf war, viele Lehren zugeschrieben, die aber gewiß nur erdichtet sind.


Die wichtigste Epoche der griechischen Philosophie hebt endlich mit dem Sokrates an. Denn er war es, welcher dem philosophischen Geiste und allen speculativen Köpfen eine ganz neue praktische Richtung gab. Auch ist er fast unter allen Menschen der einzige gewesen, dessen Verhalten der Idee eines Weisen am nächsten kommt.

Unter seinen Schülern ist Plato, der sich mehr mit den praktischen Lehren des Sokrates beschäftigte, und unter den Schülern des Plato Aristoteles, welcher die speculative Philosophie wieder höher brachte, der berühmteste.

Auf Plato und Aristoteles folgten die Epikuräer und die Stoiker, welche beide die abgesagtesten Feinde von einander waren. Jene setzten das höchste Gut in ein fröhliches Herz, das sie die Wollust nannten; diese fanden es einzig in der Hoheit und Stärke der Seele, bei welcher man alle Annehmlichkeiten des Lebens entbehren könne.

Die Stoiker waren übrigens in der speculativen Philosophie dialektisch, in der Moralphilosophie dogmatisch, und zeigten in ihren praktischen Principien, wodurch sie den Samen zu den erhabensten Gesinnungen, die je existirten, ausgestreut haben, ungemein viel Würde. Der Stifter der stoischen Schule ist Zeno aus Citium. Die berühmtesten Männer aus dieser Schule unter den griechischen Weltweisen sind Kleanth und Chrysipp.

Die epikurische Schule hat nie in den Ruf kommen können, worin die stoische war. Was man aber auch immer von den Epikuräern sagen mag, so viel ist gewiß: sie bewiesen die größte Mäßigung im Genusse und waren die besten Naturphilosophen unter allen Denkern Griechenlands.

Noch merken wir hier an, daß die vornehmsten griechischen Schulen besondere Namen führten. So hieß die Schule des Plato Akademie, die des Aristoteles Lyceum, die Schule der Stoiker Porticus (στοα), ein bedeckter Gang, wovon der Name Stoiker sich herschreibt, die Schule des Epikurs horti , weil Epikur in Gärten lehrte.

Auf Plato′s Akademie folgten noch drei andere Akademien, die von seinen Schülern gestiftet wurden. Die erste stiftete Speusippus, die zweite Arkesilaus und die dritte Karneades.

Diese Akademien neigten sich zum Skepticismus hin. Speusippus und Arkesilaus, beide stimmten ihre Denkart zur Skepsis und Karneades trieb es darin noch höher. Um deswillen werden die Skeptiker, diese subtilen, dialektischen Philosophen, auch Akademiker genannt. Die Akademiker folgten also dem ersten großen Zweifler Pyrrho und dessen Nachfolgern. Dazu hatte ihnen ihr Lehrer Plato selbst Anlaß gegeben, indem er viele seiner Lehren dialogisch vortrug, so daß Gründe pro und contra angeführt wurden, ohne daß er selbst darüber entschied, ob er gleich sonst sehr dogmatisch war.

Fängt man die Epoche des Skepticismus mit dem Pyrrho an, so bekommt man eine ganze Schule von Skeptikern, die sich in ihrer Denkart und Methode des Philosophirens von den Dogmatikern wesentlich unterschieden, indem sie es zur ersten Maxime alles philosophirenden Vernunftgebrauchs machten: auch selbst bei dem größten Scheine der Wahrheit sein Urtheil zurückzuhalten, und das Princip aufstellten: die Philosophie bestehe im Gleichgewichte des Urtheilens und lehre uns den falschen Schein aufzudecken. — Von diesen Skeptikern ist uns aber weiter nichts übrig geblieben als die beiden Werke des Sextus Empiricus, worin er alle Zweifel zusammengebracht hat.


Als in der Folge die Philosophie von den Griechen zu den Römern überging, hat sie sich nicht erweitert; denn die Römer blieben immer nur Schüler.

Cicero war in der speculativen Philosophie ein Schüler des Plato, in der Moral ein Stoiker. Zur stoischen Sekte gehörten Epiktet, Antonin der Philosoph und Seneca, als die berühmtesten. Naturlehrer gab es unter den Römern nicht, außer Plinius dem jüngern, der eine Naturbeschreibung hinterlassen hat.

Endlich verschwand die Cultur auch bei den Römern und es entstand Barbarei, bis die Araber im 6ten und 7ten Jahrhundert anfingen, sich auf die Wissenschaften zu legen und den Aristoteles wieder in Flor zu bringen. Nun kamen also die Wissenschaften im Occident wieder empor und insbesondere das Ansehen des Aristoteles, dem man aber auf eine sklavische Weise folgte. Im 11ten und 12ten Jahrhundert traten die Scholastiker auf; sie erläuterten den Aristoteles und trieben seine Subtilitäten ins Unendliche. Man beschäftigte sich mit nichts als lauter Abstractionen. Diese scholastische Methode des After-Philosophirens wurde zur Zeit der Reformation verdrängt; und nun gab es Eklektiker in der Philosophie, d. i. solche Selbstdenker, die sich zu keiner Schule bekannten, sondern die Wahrheit suchten und annahmen, wo sie sie fanden.

Ihre Verbesserung in den neueren Zeiten verdankt aber die Philosophie theils dem größeren Studium der Natur, theils der Verbindung der Mathematik mit der Naturwissenschaft. Die Ordnung, welche durch das Studium dieser Wissenschaften im Denken entstand, breitete sich auch über die besonderen Zweige und Theile der eigentlichen Weltweisheit aus. Der erste und größte Naturforscher der neuern Zeit war Baco von Verulam. Er betrat bei seinen Untersuchungen den Weg der Erfahrung und machte auf die Wichtigkeit und Unentbehrlichkeit der Beobachtungen und Versuche zur Entdeckung der Wahrheit aufmerksam. Es ist übrigens schwer zu sagen, von wo die Verbesserung der speculativen Philosophie eigentlich herkommt. Ein nicht geringes Verdienst um dieselbe erwarb sich Descartes, indem er viel dazu beitrug, dem Denken Deutlichkeit zu geben, durch sein aufgestelltes Kriterium der Wahrheit, das er in die Klarheit und Evidenz der Erkenntniß setzte.

Unter die größten und verdienstvollsten Reformatoren der Philosophie zu unsern Zeiten ist aber Leibniz und Locke zu rechnen. Der letztere suchte den menschlichen Verstand zu zergliedern und zu zeigen, welche Seelenkräfte und welche Operationen derselben zu dieser oder jener Erkenntniß gehörten. Aber er hat das Werk seiner Untersuchung nicht vollendet, auch ist sein Verfahren dogmatisch, wiewohl er den Nutzen stiftete, daß man anfing, die Natur der Seele besser und gründlicher zu studiren.

Was die besondre, Leibnizen und Wolffen eigene, dogmatische Methode des Philosophirens betrifft, so war dieselbe sehr fehlerhaft. Auch liegt darin so viel Täuschendes, daß es wohl nöthig ist, das ganze Verfahren zu suspendiren und statt dessen ein anderes, die Methode des kritischen Philosophirens, in Gang zu bringen, die darin besteht, das Verfahren der Vernunft selbst zu untersuchen, das gesammte menschliche Erkenntnißvermögen zu zergliedern und zu prüfen, wie weit die Grenzen desselben wohl gehen mögen.

In unserm Zeitalter ist Naturphilosophie im blühendsten Zustande, und unter den Naturforschern giebt es große Namen z. B. Newton. Neuere Philosophen lassen sich jetzt als ausgezeichnete und bleibende Namen eigentlich nicht nennen, weil hier alles gleichsam im Flusse fortgeht. Was der eine baut, reißt der andere nieder.

In der Moralphilosophie sind wir nicht weiter gekommen als die Alten. Was aber Metaphysik betrifft, so scheint es, als wären wir bei Untersuchung metaphysischer Wahrheiten stutzig geworden. Es zeigt sich jetzt eine Art von Indifferentismus gegen diese Wissenschaft, da man es sich zur Ehre zu machen scheint, von metaphysischen Nachforschungen als von blosen Grübeleien verächtlich zu reden. Und doch ist Metaphysik die eigentliche, wahre Philosophie! —

Unser Zeitalter ist das Zeitalter der Kritik, und man muß sehen, was aus den kritischen Versuchen unserer Zeit, in Absicht auf Philosophie und Metaphysik insbesondre, werden wird.


V.
Erkenntniß überhaupt. Intuitive und discursive Erkenntniß; Anschauung und Begriff und deren Unterschied insbesondre. Logische und ästhetische Vollkommenheit des Erkenntnisses. —

Alle unsere Erkenntniß hat eine zwiefache Beziehung; erstlich eine Beziehung auf das Object, zweitens eine Beziehung auf das Subject. In der erstern Rücksicht bezieht sie sich auf Vorstellung, in der letztern aufs Bewußtsein, die allgemeine Bedingung alles Erkenntnisses überhaupt. (Eigentlich ist das Bewußtsein eine Vorstellung, daß eine andere Vorstellung in mir ist.)

In jeder Erkenntniß muß unterschieden werden Materie, d. i. der Gegenstand, und Form, d. i. die Art, wie wir den Gegenstand erkennen. Sieht z. B. ein Wilder ein Haus aus der Ferne, dessen Gebrauch er nicht kennt, so hat er zwar eben dasselbe Object wie ein Anderer, der es bestimmt als eine für Menschen eingerichtete Wohnung kennt, in der Vorstellung vor sich. Aber der Form nach ist dieses Erkenntniß eines und desselben Objects in beiden verschieden. Bei dem Einen ist es blose Anschauung, bei dem Andern Anschauung und Begriff zugleich.

Die Verschiedenheit der Form des Erkenntnisses beruht auf einer Bedingung, die alles Erkennen begleitet, auf dem Bewußtsein. Bin ich mir der Vorstellung bewußt, so ist sie klar; bin ich mir derselben nicht bewußt, dunkel.

Da das Bewußtsein die wesentliche Bedingung aller logischen Form der Erkenntnisse ist: so kann und darf sich die Logik auch nur mit klaren, nicht aber mit dunkeln Vorstellungen beschäftigen. Wir sehen in der Logik nicht, wie Vorstellungen entspringen; sondern lediglich, wie dieselben mit der logischen Form übereinstimmen. — Ueberhaupt kann die Logik auch gar nicht von den blosen Vorstellungen und deren Möglichkeit handeln. Das überläßt sie der Metaphysik. Sie selbst beschäftigt sich blos mit den Regeln des Denkens bei Begriffen, Urtheilen und Schlüssen, als wodurch alles Denken geschieht. Freilich geht etwas vorher, ehe eine Vorstellung Begriff wird. Das werden wir an seinem Orte auch anzeigen. Wir werden aber nicht untersuchen: Wie Vorstellungen entspringen? — Zwar handelt die Logik auch vom Erkennen, weil beim Erkennen schon Denken Statt findet. Aber Vorstellung ist noch nicht Erkenntniß, sondern Erkenntniß setzt immer Vorstellung voraus. Und diese letztere läßt sich auch durchaus nicht erklären. Denn man müßte, was Vorstellung sei? doch immer wiederum durch eine andere Vorstellung erklären.

Alle klaren Vorstellungen, auf die sich allein die logischen Regeln anwenden lassen, können nun unterschieden werden in Ansehung der Deutlichkeit und Undeutlichkeit. Sind wir uns der ganzen Vorstellung bewußt, nicht aber des Mannigfaltigen, das in ihr enthalten ist, so ist die Vorstellung undeutlich. Zur Erläuterung der Sache zuerst ein Beispiel in der Anschauung.

Wir erblicken in der Ferne ein Landhaus. Sind wir uns bewußt, daß der angeschaute Gegenstand ein Haus ist; so müssen wir nothwendig doch auch eine Vorstellung von den verschiedenen Theilen dieses Hauses, den Fenstern, Thüren u. s. w. haben. Denn sähen wir die Theile nicht, so würden wir auch das Haus selbst nicht sehen. Aber wir sind uns dieser Vorstellung von dem Mannigfaltigen seiner Theile nicht bewußt und unsere Vorstellung von dem gedachten Gegenstande selbst ist daher eine undeutliche Vorstellung.

Wollen wir ferner ein Beispiel von Undeutlichkeit in Begriffen: so möge der Begriff der Schönheit dazu dienen. Ein Jeder hat von der Schönheit einen klaren Begriff. Allein es kommen in diesem Begriffe verschiedene Merkmale vor; unter andern, daß das Schöne etwas sein müsse, das 1) in die Sinne fällt und das 2) allgemein gefällt. Können wir uns nun das Mannigfaltige dieser und anderer Merkmale des Schönen nicht auseinandersetzen, so ist unser Begriff davon doch immer noch undeutlich.

Die undeutliche Vorstellung nennen Wolffs Schüler eine verworrene. Allein dieser Ausdruck ist nicht passend, weil das Gegentheil von Verwirrung nicht Deutlichkeit, sondern Ordnung ist. Zwar ist Deutlichkeit eine Wirkung der Ordnung und Undeutlichkeit eine Wirkung der Verwirrung; und es ist also jede verworrene Erkenntniß auch eine undeutliche. Aber der Satz gilt nicht umgekehrt: nicht alle undeutliche Erkenntniß ist eine verworrene. Denn bei Erkenntnissen, in denen kein Mannigfaltiges vorhanden ist, findet keine Ordnung, aber auch keine Verwirrung Statt.

Diese Bewandtniß hat es mit allen einfachen Vorstellungen, die nie deutlich werden; nicht, weil in ihnen Verwirrung, sondern weil in ihnen kein Mannigfaltiges anzutreffen ist. Man muß sie daher undeutlich, aber nicht verworren nennen.

Und auch selbst bei den zusammengesetzten Vorstellungen, in denen sich ein Mannigfaltiges von Merkmalen unterscheiden läßt, rührt die Undeutlichkeit oft nicht her von Verwirrung, sondern von Schwäche des Bewußtseins. Es kann nämlich etwas deutlich sein der Form nach, d. h. ich kann mir des Mannigfaltigen in der Vorstellung bewußt sein; aber der Materie nach kann die Deutlichkeit abnehmen, wenn der Grad des Bewußtseins kleiner wird, obgleich alle Ordnung da ist. Dieses ist der Fall mit abstracten Vorstellungen.

Die Deutlichkeit selbst kann eine zwiefache sein:

Erstlich, eine sinnliche. — Diese besteht in dem Bewußtsein des Mannigfaltigen in der Anschauung. Ich sehe z. B. die Milchstraße als einen weißlichten Streifen; die Lichtstrahlen von den einzelnen in demselben befindlichen Sternen müssen nothwendig in mein Auge gekommen sein. Aber die Vorstellung davon war nur klar und wird durch das Teleskop erst deutlich, weil ich jetzt die einzelnen in jenem Milchstreifen enthaltenen Sterne erblicke.

Zweitens, eine intellectuelle. — Deutlichkeit in Begriffen oder Verstandesdeutlichkeit. Diese beruht auf der Zergliederung des Begriffs in Ansehung des Mannigfaltigen, das in ihm enthalten liegt. So sind z. B. in dem Begriffe der Tugend als Merkmale enthalten 1) der Begriff der Freiheit, 2) der Begriff der Anhänglichkeit an Regeln (der Pflicht), 3) der Begriff von Ueberwältigung der Macht der Neigungen, wofern sie jenen Regeln widerstreiten. Lösen wir nun so den Begriff der Tugend in seine einzelnen Bestandtheile auf, so machen wir ihn eben durch diese Analyse uns deutlich. Durch diese Deutlichmachung selbst aber setzen wir zu einem Begriffe nichts hinzu; wir erklären ihn nur. Es werden daher bei der Deutlichkeit die Begriffe nicht der Materie, sondern nur der Form nach verbessert.


Reflectiren wir auf unsere Erkenntnisse in Ansehung der beiden wesentlich verschiedenen Grundvermögen der Sinnlichkeit und des Verstandes, woraus sie entspringen, so treffen wir hier auf den Unterschied zwischen Anschauungen und Begriffen. Alle unsere Erkenntnisse nämlich sind, in dieser Rücksicht betrachtet, entweder Anschauungen oder Begriffe. Die erstern haben ihre Quelle in der Sinnlichkeit, dem Vermögen der Anschauungen; die letztern im Verstande, dem Vermögen der Begriffe. Dieses ist der logische Unterschied zwischen Verstand und Sinnlichkeit, nach welchem diese nichts als Anschauungen, jener hingegen nichts als Begriffe liefert. Beide Grundvermögen lassen sich freilich auch noch von einer andern Seite betrachten und auf eine andere Art definiren; nämlich die Sinnlichkeit als ein Vermögen der Receptivität, der Verstand als ein Vermögen der Spontaneität. Allein diese Erklärungsart ist nicht logisch, sondern metaphysisch. Man pflegt die Sinnlichkeit auch das niedere, den Verstand dagegen das obere Vermögen zu nennen, aus dem Grunde, weil die Sinnlichkeit den blosen Stoff zum Denken giebt, der Verstand aber über diesen Stoff disponirt und denselben unter Regeln oder Begriffe bringt.

Auf den hier angegebenen Unterschied zwischen intuitiven und discursiven Erkenntnissen, oder zwischen Anschauungen und Begriffen gründet sich die Verschiedenheit der ästhetischen und der logischen Vollkommenheit des Erkenntnisses.

Ein Erkenntniß kann vollkommen sein, entweder nach Gesetzen der Sinnlichkeit, oder nach Gesetzen des Verstandes; im erstern Falle ist es ästhetisch, im andern logisch vollkommen. Beide, die ästhetische und die logische Vollkommenheit, sind also von verschiedener Art; die erstere bezieht sich auf die Sinnlichkeit, die letztere auf den Verstand. Die logische Vollkommenheit des Erkenntnisses beruht auf seiner Uebereinstimmung mit dem Objecte; also auf allgemeingültigen Gesetzen, und läßt sich mithin auch nach Normen a priori beurtheilen. Die ästhetische Vollkommenheit besteht in der Uebereinstimmung des Erkenntnisses mit dem Subjecte und gründet sich auf die besondere Sinnlichkeit des Menschen. Es finden daher bei der ästhetischen Vollkommenheit keine objectiv- und allgemeingültigen Gesetze Statt, in Beziehung auf welche sie sich a priori auf eine für alle denkenden Wesen überhaupt allgemeingeltende Weise beurtheilen ließe. Sofern es indessen auch allgemeine Gesetze der Sinnlichkeit giebt, die, obgleich nicht objectiv und für alle denkenden Wesen überhaupt, doch subjectiv für die gesammte Menschheit Gültigkeit haben: läßt sich auch eine ästhetische Vollkommenheit denken, die den Grund eines subjectiv-allgemeinen Wohlgefallens enthält. Dieses ist die Schönheit, das, was den Sinnen in der Anschauung gefällt und eben darum der Gegenstand eines allgemeinen Wohlgefallens sein kann, weil die Gesetze der Anschauung allgemeine Gesetze der Sinnlichkeit sind.

Durch diese Uebereinstimmung mit den allgemeinen Gesetzen der Sinnlichkeit unterscheidet sich der Art nach das eigentliche, selbstständige Schöne, dessen Wesen in der blosen Form besteht, von dem Angenehmen, das lediglich in der Empfindung durch Reiz oder Rührung gefällt, und um deswillen auch nur der Grund eines blosen Privat-Wohlgefallens sein kann.

Diese wesentliche ästhetische Vollkommenheit ist es auch, welche unter allen mit der logischen Vollkommenheit sich verträgt und am besten mit ihr verbinden läßt.

Von dieser Seite betrachtet kann also die ästhetische Vollkommenheit in Ansehung jenes wesentlich Schönen der logischen Vollkommenheit vortheilhaft sein. In einer anderen Rücksicht ist sie ihr aber auch nachtheilig, sofern wir bei der ästhetischen Vollkommenheit nur auf das außerwesentlich Schöne sehen, das Reizende oder Rührende, was den Sinnen in der blosen Empfindung gefällt und nicht auf die blose Form, sondern die Materie der Sinnlichkeit sich bezieht. Denn Reiz und Rührung können die logische Vollkommenheit in unsern Erkenntnissen und Urtheilen am meisten verderben.

Ueberhaupt bleibt wohl freilich zwischen der ästhetischen und der logischen Vollkommenheit unsers Erkenntnisses immer eine Art von Widerstreit, der nicht völlig gehoben werden kann. Der Verstand will belehrt, die Sinnlichkeit belebt sein, der erste begehrt Einsicht, die zweite Faßlichkeit. Sollen Erkenntnisse unterrichten, so müssen sie in so fern gründlich sein; sollen sie zugleich unterhalten, so müssen sie auch schön sein. Ist ein Vortrag schön, aber seicht, so kann er nur der Sinnlichkeit, aber nicht dem Verstande, ist er umgekehrt gründlich, aber trocken, nur dem Verstande, aber nicht auch der Sinnlichkeit gefallen.

Da es indessen das Bedürfniß der menschlichen Natur und der Zweck der Popularität des Erkenntnisses erfordert, daß wir beide Vollkommenheiten mit einander zu vereinigen suchen, so müssen wir es uns auch angelegen sein lassen, denjenigen Erkenntnissen, die überhaupt einer ästhetischen Vollkommenheit fähig sind, dieselbe zu verschaffen und eine schulgerechte, logisch vollkommene Erkenntniß durch die ästhetische Form populär zu machen. Bei diesem Bestreben, die ästhetische mit der logischen Vollkommenheit in unsern Erkenntnissen zu verbinden, müssen wir aber folgende Regeln nicht aus der Acht lassen; nämlich 1) daß die logische Vollkommenheit die Basis aller übrigen Vollkommenheiten sei und daher keiner andern gänzlich nachstehen oder aufgeopfert werden dürfe; 2) daß man hauptsächlich auf die formale ästhetische Vollkommenheit sehe, — die Uebereinstimmung einer Erkenntniß mit den Gesetzen der Anschauung, — weil gerade hierin das wesentlich Schöne besteht, das mit der logischen Vollkommenheit sich am besten vereinigen läßt; 3) daß man mit Reiz und Rührung, wodurch ein Erkenntniß auf die Empfindung wirkt und für dieselbe ein Interesse erhält, sehr behutsam sein müsse, weil hierdurch so leicht die Aufmerksamkeit vom Object auf das Subject kann gezogen werden, woraus denn augenscheinlich ein sehr nachtheiliger Einfluß auf die logische Vollkommenheit des Erkenntnisses entstehen muß.


Um die wesentlichen Verschiedenheiten, die zwischen der logischen und der ästhetischen Vollkommenheit des Erkenntnisses Statt finden, nicht blos im Allgemeinen, sondern von mehreren besondern Seiten noch kenntlicher zu machen, wollen wir sie beide unter einander vergleichen in Rücksicht auf die vier Hauptmomente der Quantität, der Qualität, der Relation und der Modalität, worauf es bei Beurtheilung der Vollkommenheit des Erkenntnisses ankommt.

Ein Erkenntniß ist vollkommen 1) der Quantität nach, wenn es allgemein ist; 2) der Qualität nach, wenn es deutlich ist; 3) der Relation nach, wenn es wahr ist, und endlich 4) der Modalität nach, wenn es gewiß ist.

Aus diesen angegebenen Gesichtspunkten betrachtet, wird also ein Erkenntniß logisch vollkommen sein der Quantität nach: wenn es objective Allgemeinheit (Allgemeinheit des Begriffs oder der Regel), der Qualität nach: wenn es objective Deutlichkeit (Deutlichkeit im Begriffe), der Relation nach: wenn es objective Wahrheit, und endlich der Modalität nach: wenn es objective Gewißheit hat.

Diesen logischen Vollkommenheiten entsprechen nun folgende ästhetische Vollkommenheiten in Beziehung auf jene vier Hauptmomente; nämlich

  1. die ästhetische Allgemeinheit. Diese besteht in der Anwendbarkeit einer Erkenntniß auf eine Menge von Objecten, die zu Beispielen dienen, an denen sich die Anwendung von ihr machen läßt, und wodurch sie zugleich für den Zweck der Popularität brauchbar wird;
  2. die ästhetische Deutlichkeit. Dieses ist die Deutlichkeit in der Anschauung, worin durch Beispiele ein abstract gedachter Begriff in concreto dargestellt oder erläutert wird;
  3. die ästhetische Wahrheit. Eine blos subjective Wahrheit, die nur in der Uebereinstimmung des Erkenntnisses mit dem Subject und den Gesetzen des Sinnen-Scheines besteht und folglich nichts weiter als ein allgemeiner Schein ist;
  4. die ästhetische Gewißheit. Diese beruht auf dem, was dem Zeugnisse der Sinne zufolge nothwendig ist, d. i. was durch Empfindung und Erfahrung bestätigt wird.

Bei den so eben genannten Vollkommenheiten kommen immer zwei Stücke vor, die in ihrer harmonischen Vereinigung die Vollkommenheit überhaupt ausmachen, nämlich: Mannigfaltigkeit und Einheit. Beim Verstande liegt die Einheit im Begriffe, bei den Sinnen in der Anschauung.

Blose Mannigfaltigkeit ohne Einheit kann uns nicht befriedigen. Und daher ist unter allen die Wahrheit die Hauptvollkommenheit, weil sie der Grund der Einheit ist durch die Beziehung unseres Erkenntnisses auf das Object. Auch selbst bei der ästhetischen Vollkommenheit bleibt die Wahrheit immer die conditio sine qua non, die vornehmste negative Bedingung, ohne welche etwas nicht allgemein dem Geschmacke gefallen kann. Es darf daher niemand hoffen, in schönen Wissenschaften fortzukommen, wenn er nicht logische Vollkommenheit in seinem Erkenntnisse zum Grunde gelegt hat. In der größten möglichen Vereinbarung der logischen mit der ästhetischen Vollkommenheit überhaupt in Rücksicht auf solche Kenntnisse, die beides, zugleich unterrichten und unterhalten sollen, zeigt sich auch wirklich der Charakter und die Kunst des Genies.


VI.
Besondere logische Vollkommenheiten des Erkenntnisses.

A) Logische Vollkommenheit des Erkenntnisses der Quantität nach. Größe. Extensive und intensive Größe. Weitläuftigkeit und Gründlichkeit oder Wichtigkeit und Fruchtbarkeit des Erkenntnisses. Bestimmung des Horizonts unserer Erkenntnisse.

Die Größe der Erkenntniß kann in einem zwiefachen Verstande genommen werden, entweder als extensive oder als intensive Größe. Die erstere bezieht sich auf den Umfang der Erkenntniß und besteht also in der Menge und Mannigfaltigkeit derselben; die letztere bezieht sich auf ihren Gehalt, welcher die Vielgültigkeit oder die logische Wichtigkeit und Fruchtbarkeit einer Erkenntniß betrifft, sofern sie als Grund von vielen und großen Folgen betrachtet wird (non multa sed multum).

Bei Erweiterung unserer Erkenntnisse oder bei Vervollkommnung derselben ihrer extensiven Größe nach, ist es gut sich einen Ueberschlag zu machen, in wie weit ein Erkenntniß mit unsern Zwecken und Fähigkeiten zusammenstimme. Diese Ueberlegung betrifft die Bestimmung des Horizonts unserer Erkenntnisse, unter welchem die Angemessenheit der Größe der gesammten Erkenntnisse mit den Fähigkeiten und Zwecken des Subjects zu verstehen ist.

Der Horizont läßt sich bestimmen

  1. logisch, nach dem Vermögen oder den Erkenntnißkräften in Beziehung auf das Interesse des Verstandes. Hier haben wir zu beurtheilen: wie weit wir in unsern Erkenntnissen kommen können, wie weit wir darin gehen müssen und in wie fern gewisse Erkenntnisse in logischer Absicht als Mittel zu diesen oder jenen Haupterkenntnissen, als unsern Zwecken, dienen;
  2. ästhetisch, nach dem Geschmack in Beziehung auf das Interesse des Gefühls. Der seinen Horizont ästhetisch bestimmt, sucht die Wissenschaft nach dem Geschmacke des Publicums einzurichten, d. h. sie popular zu machen, oder überhaupt nur solche Erkenntnisse sich zu erwerben, die sich allgemein mittheilen lassen und an denen auch die Klasse der Nichtgelehrten Gefallen und Interesse findet;
  3. praktisch, nach dem Nutzen in Beziehung auf das Interesse des Willens. Der praktische Horizont, sofern er bestimmt wird nach dem Einflusse, den ein Erkenntniß auf unsere Sittlichkeit hat, ist pragmatisch und von der größten Wichtigkeit.

Der Horizont betrifft also die Beurtheilung und Bestimmung dessen, was der Mensch wissen kann, was er wissen darf, und was er wissen soll.


Was nun insbesondre den theoretisch oder logisch bestimmten Horizont betrifft - und von diesem kann hier allein die Rede sein —, so können wir denselben entweder aus dem objectiven oder aus dem subjectiven Gesichtspunkte betrachten.

In Ansehung der Objecte ist der Horizont entweder historisch oder rational. Der erstere ist viel weiter als der andere, ja er ist unermeßlich groß, denn unsere historische Erkenntniß hat keine Grenzen. Der rationale Horizont dagegen läßt sich fixiren, es läßt sich z. B. bestimmen, auf welche Art von Objecten das mathematische Erkenntniß nicht ausgedehnt werden könne. So auch in Absicht auf das philosophische Vernunfterkenntniß, wie weit hier die Vernunft a priori ohne alle Erfahrung wohl gehen könne?

In Beziehung aufs Subject ist der Horizont entweder der allgemeine und absolute, oder ein besondrer und bedingter (Privat-Horizont).

Unter dem absoluten und allgemeinen Horizont ist die Congruenz der Grenzen der menschlichen Erkenntnisse mit den Grenzen der gesammten menschlichen Vollkommenheit überhaupt zu verstehen. Und hier ist also die Frage: was kann der Mensch als Mensch überhaupt wissen?

Die Bestimmung des Privat-Horizonts hängt ab von mancherlei empirischen und speciellen Rücksichten, z. B. des Alters, des Geschlechts, Standes, der Lebensart u. dgl. m. Jede besondre Klasse von Menschen hat also in Beziehung auf ihre speciellen Erkenntnißkräfte, Zwecke und Standpunkte, ihren besondern —; jeder Kopf nach Maaßgabe der Individualität seiner Kräfte und seines Standpunktes seinen eigenen Horizont. Endlich können wir uns auch noch einen Horizont der gesunden Vernunft und einen Horizont der Wissenschaft denken, welcher letztere noch Principien bedarf, um nach denselben zu bestimmen, was wir wissen und nicht wissen können.

Was wir nicht wissen können, ist über unseren Horizont, was wir nicht wissen dürfen oder nicht zu wissen brauchen, außer unserem Horizonte. Dieses letztere kann jedoch nur relativ gelten in Beziehung auf diese oder jene besondren Privatzwecke, zu deren Erreichung gewisse Erkenntnisse nicht nur nichts beitragen, sondern ihr sogar hinderlich sein könnten. Denn schlechthin und in aller Absicht unnütz und unbrauchbar ist doch kein Erkenntniß, ob wir gleich seinen Nutzen nicht immer einsehen können. Es ist daher ein eben so unweiser als ungerechter Vorwurf, der großen Männern, welche mit mühsamem Fleiße die Wissenschaften bearbeiten, von schalen Köpfen gemacht wird, wenn diese hierbei fragen: wozu ist das nütze? — Diese Frage muß man, indem man sich mit Wissenschaften beschäftigen will, gar nicht einmal aufwerfen. Gesetzt, eine Wissenschaft könnte nur über irgend ein mögliches Object Aufschlüsse geben, so wäre sie um deswillen schon nützlich genug. Jede logisch vollkommene Erkenntniß hat immer irgend einen möglichen Nutzen, der, obgleich uns bis jetzt unbekannt, doch vielleicht von der Nachkommenschaft wird gefunden werden. Hätte man bei Cultur der Wissenschaften immer nur auf den materiellen Gewinn, den Nutzen derselben gesehen, so würden wir keine Arithmetik und Geometrie haben. Unser Verstand ist auch überdies so eingerichtet, daß er in der blosen Einsicht Befriedigung findet und mehr noch als in dem Nutzen, der daraus entspringt. Dieses merkte schon Plato an. Der Mensch fühlt seine eigene Vortrefflichkeit dabei, er empfindet, was es heiße, Verstand haben. Menschen, die das nicht empfinden, müssen die Thiere beneiden. Der innere Werth, den Erkenntnisse durch logische Vollkommenheit haben, ist mit ihrem äußern, dem Werthe in der Anwendung, nicht zu vergleichen.

Wie das, was außer unserm Horizonte liegt, sofern wir es nach unsern Absichten, als entbehrlich für uns, nicht wissen dürfen; so ist auch das, was unter unserem Horizont liegt, sofern wir es, als schädlich für uns, nicht wissen sollen, nur in einem relativen, keinesweges aber im absoluten Sinne zu verstehen.


In Absicht auf die Erweiterung und Demarcation unserer Erkenntniß sind folgende Regeln zu empfehlen.

Man muß sich seinen Horizont

  1. zwar frühzeitig bestimmen, aber freilich doch erst alsdann, wenn man ihn sich selbst bestimmen kann, welches gewöhnlich vor dem 20ten Jahre nicht Statt findet;
  2. ihn nicht leicht und oft verändern (nicht von einem auf das andere fallen);
  3. den Horizont Anderer nicht nach dem seinigen messen, und nicht das für unnütz halten, was uns zu Nichts nützt; es würde verwegen sein, den Horizont Anderer bestimmen zu wollen, weil man theils ihre Fähigkeiten, theils ihre Absichten nicht genug kennt;
  4. ihn weder zu sehr ausdehnen, noch zu sehr einschränken. Denn der zu viel wissen will, weiß am Ende nichts, und der umgekehrt von einigen Dingen glaubt, daß sie ihn nichts angehen, betrügt sich oft; wie wenn z. B. der Philosoph von der Geschichte glaubte, daß sie ihm entbehrlich sei;

Auch suche man

  1. den absoluten Horizont des ganzen menschlichen Geschlechts (der vergangenen und künftigen Zeit nach) zum voraus zu bestimmen, so wie insbesondre auch
  2. die Stelle zu bestimmen, die unsere Wissenschaft im Horizonte der gesammten Erkenntniß einnimmt. Dazu dient die Universal-Encyklopädie als eine Universalcharte (Mappe-Monde) der Wissenschaften;
  3. bei Bestimmung seines besondern Horizonts selbst prüfe man sorgfältig: zu welchem Theile des Erkenntnisses man die größte Fähigkeit und Wohlgefallen habe, was in Ansehung gewisser Pflichten mehr oder weniger nöthig sei, was mit den nothwendigen Pflichten nicht zusammen bestehen könne und endlich
  4. suche man seinen Horizont immer doch mehr zu erweitern als zu verengen.

Es ist überhaupt von der Erweiterung des Erkenntnisses das nicht zu besorgen, was d′Alembert von ihr besorgt. Denn uns drückt nicht die Last, sondern uns verengt das Volumen des Raums für unsere Erkenntnisse. Kritik der Vernunft, der Geschichte und historischen Schriften; — ein allgemeiner Geist, der auf das menschliche Erkenntniß en gros und nicht blos im détail geht, werden immer den Umfang kleiner machen, ohne im Inhalte etwas zu vermindern. Blos die Schlacke fällt vom Metalle weg oder das unedlere Vehikel, die Hülle, welche bis so lange nöthig war. Mit der Erweiterung der Naturgeschichte, der Mathematik u. s. w. werden neue Methoden erfunden werden, die das Alte verkürzen und die Menge der Bücher entbehrlich machen. Auf Erfindung solcher neuen Methoden und Principien wird es beruhen, daß wir, ohne das Gedächtniß zu belästigen, Alles mit Hülfe derselben nach Belieben selbst finden können. Daher macht sich der um die Geschichte wie ein Genie verdient, welcher sie unter Ideen faßt, die immer bleiben können.


Der logischen Vollkommenheit des Erkenntnisses in Ansehung seines Umfanges steht die Unwissenheit entgegen. Eine negative Unvollkommenheit oder Unvollkommenheit des Mangels, die wegen der Schranken des Verstandes von unserm Erkenntnisse unzertrennlich bleibt.

Wir können die Unwissenheit aus einem objectiven und aus einem subjectiven Gesichtspunkte betrachten.

  1. Objectiv genommen, ist die Unwissenheit entweder eine materiale oder eine formale. Die erstere besteht in einem Mangel an historischen, die andere in einem Mangel an rationalen Erkenntnissen. Man muß in keinem Fache ganz ignorant sein, aber wohl kann man das historische Wissen einschränken, um sich desto mehr auf das rationale zu legen, oder umgekehrt.
  2. In subjectiver Bedeutung ist die Unwissenheit entweder eine gelehrte, scientifische oder eine gemeine. Der die Schranken der Erkenntniß, also das Feld der Unwissenheit, von wo es anhebt, deutlich einsieht, der Philosoph z. B., der es einsieht und beweist, wie wenig man aus Mangel an den dazu erforderlichen Datis in Ansehung der Structur des Goldes wissen könne, ist kunstmäßig oder auf eine gelehrte Art unwissend. Der hingegen unwissend ist, ohne die Gründe von den Grenzen des Wissens einzusehen und sich darum zu bekümmern, ist es auf eine gemeine, nicht wissenschaftliche Weise. Ein solcher weiß nicht einmal, da er nichts wisse. Denn man kann sich seine Unwissenheit niemals anders vorstellen als durch die Wissenschaft, so wie ein Blinder sich die Finsterni nicht vorstellen kann, als bis er sehend geworden.

Die Kenntniß seiner Unwissenheit setzt also Wissenschaft voraus und macht zugleich bescheiden, dagegen das eingebildete Wissen aufbläht. So war Sokrates Nichtwissen eine rühmliche Unwissenheit, eigentlich ein Wissen des Nichtwissens nach seinem eigenen Geständnisse. Diejenigen also, die sehr viele Kenntnisse besitzen und bei alle dem doch über die Menge dessen, was sie nicht wissen, erstaunen, kann der Vorwurf der Unwissenheit eben nicht treffen.

Untadelhaft (inculpabilis) ist überhaupt die Unwissenheit in Dingen, deren Erkenntniß über unseren Horizont geht, und erlaubt (wiewohl auch nur im relativen Sinne) kann sie sein in Ansehung des speculativen Gebrauchs unserer Erkenntnißvermögen, sofern die Gegenstände hier, obgleich nicht über, aber doch außer unserem Horizonte liegen. Schändlich aber ist sie in Dingen, die zu wissen uns sehr nöthig und auch leicht ist.

Es ist ein Unterschied, etwas nicht wissen und etwas ignoriren, d. i. keine Notiz wovon nehmen. Es ist gut viel zu ignoriren, was uns nicht gut ist zu wissen. Von beidem ist noch unterschieden das Abstrahiren. Man abstrahirt aber von einer Erkenntniß, wenn man die Anwendung derselben ignorirt, wodurch man sie in abstracto bekommt und im Allgemeinen als Princip sodann besser betrachten kann. Ein solches Abstrahiren von dem, was bei Erkenntniß einer Sache zu unserer Absicht nicht gehört, ist nützlich und lobenswerth.

Historisch unwissend sind gemeiniglich Vernunftlehrer.

Das historische Wissen ohne bestimmte Grenzen ist Polyhistorie; diese bläht auf. Polymathie geht auf das Vernunfterkenntniß. Beides, das ohne bestimmte Grenzen ausgedehnte historische so wohl als rationale Wissen kann Pansophie heißen. Zum historischen Wissen gehört die Wissenschaft von den Werkzeugen der Gelehrsamkeit, die Philologie, die eine kritische Kenntniß der Bücher und Sprachen (Literatur und Linguistik) in sich faßt.

Die blose Polyhistorie ist eine cyklopische Gelehrsamkeit, der ein Auge fehlt, das Auge der Philosophie, und ein Cyklop von Mathematiker, Historiker, Naturbeschreiber, Philolog und Sprachkundiger ist ein Gelehrter, der groß in allen diesen Stücken ist, aber alle Philosophie darüber für entbehrlich hält.

Einen Theil der Philologie machen die Humaniora aus, worunter man die Kenntniß der Alten versteht, welche die Vereinigung der Wissenschaft mit Geschmack befördert, die Rauhigkeit abschleift und die Communicabilität und Urbanität, worin Humanität besteht, befördert.

Die Humaniora betreffen also eine Unterweisung in dem, was zur Cultur des Geschmacks dient, den Mustern der Alten gemäß. Dahin gehört z. B. Beredsamkeit, Poesie, Belesenheit in den classischen Autoren u. dgl. m. Alle diese humanistischen Kenntnisse kann man zum praktischen, auf die Bildung des Geschmacks zunächst abzweckenden Theile der Philologie rechnen. Trennen wir aber den blosen Philologen noch vom Humanisten, so würden sich beide darin von einander unterscheiden, da jener die Werkzeuge der Gelehrsamkeit bei den Alten sucht, dieser hingegen die Werkzeuge der Bildung des Geschmacks.

Der Belletrist oder bel esprit ist ein Humanist nach gleichzeitigen Mustern in lebenden Sprachen. Er ist also kein Gelehrter, denn nur todte Sprachen sind jetzt gelehrte Sprachen, sondern ein bloser Dilettant der Geschmackskenntnisse nach der Mode, ohne der Alten zu bedürfen. Man könnte ihn den Affen des Humanisten nennen. Der Polyhistor muß als Philolog Linguist und Literator und als Humanist muß er Classiker und ihr Ausleger sein. Als Philolog ist er cultivirt, als Humanist civilisirt.


In Ansehung der Wissenschaften giebt es zwei Ausartungen des herrschenden Geschmacks: Pedanterie und Galanterie. Die eine treibt die Wissenschaften blos für die Schule und schränkt sie dadurch ein in Rücksicht ihres Gebrauches, die andere treibt sie blos für den Umgang oder die Welt und beschränkt sie dadurch in Absicht auf ihren Inhalt.

Der Pedant ist entweder als Gelehrter dem Weltmanne entgegengesetzt und ist in so fern der aufgeblasene Gelehrte ohne Weltkenntniß, d. i. ohne Kenntniß der Art und Weise, seine Wissenschaft an den Mann zu bringen; oder er ist zwar als der Mann von Geschicklichkeit überhaupt zu betrachten, aber nur in Formalien, nicht dem Wesen und Zwecke nach. In der letztern Bedeutung ist er ein Formalienklauber; eingeschränkt in Ansehung des Kerns der Sachen, sieht er nur auf das Kleid und die Schale. Er ist die verunglückte Nachahmung oder Caricatur vom methodischen Kopfe. Man kann daher die Pedanterie auch die grüblerische Peinlichkeit und unnütze Genauigkeit (Mikrologie) in Formalien nennen. Und ein solches Formale der Schulmethode außer der Schule ist nicht blos bei Gelehrten und im gelehrten Wesen, sondern auch bei andern Ständen und in andern Dingen anzutreffen. Das Ceremoniell an Höfen, im Umgange, was ist es anders als Formalienjagd und Klauberei? Im Militair ist es nicht völlig so, ob es gleich so scheint. Aber im Gespräche, in der Kleidung, in der Diät, in der Religion herrscht oft viel Pedanterie.

Eine zweckmäßige Genauigkeit in Formalien ist Gründlichkeit (schulgerechte, scholastische Vollkommenheit). Pedanterie ist also eine affectirte Gründlichkeit, so wie Galanterie, als eine blose Buhlerin um den Beifall des Geschmacks, nichts als eine affectirte Popularität ist. Denn die Galanterie ist nur bemüht, sich dem Leser gewogen zu machen und ihn daher auch nicht einmal durch ein schweres Wort zu beleidigen.

Pedanterie zu vermeiden, dazu werden ausgebreitete Kenntnisse nicht nur in den Wissenschaften selbst, sondern auch in Ansehung des Gebrauches derselben erfordert. Daher kann sich nur der wahre Gelehrte von der Pedanterie losmachen, die immer die Eigenschaft eines eingeschränkten Kopfes ist.

Bei dem Bestreben, unserm Erkenntnisse die Vollkommenheit der scholastischen Gründlichkeit und zugleich der Popularität zu verschaffen, ohne darüber in die gedachten Fehler einer affectirten Gründlichkeit oder einer affectirten Popularität zu gerathen, müssen wir vor Allem auf die scholastische Vollkommenheit unsers Erkenntnisses, — die schulgerechte Form der Gründlichkeit, — sehen und sodann erst dafür sorgen, wie wir die methodisch in der Schule gelernte Erkenntniß wahrhaft populär, d. i. Andern so leicht und allgemein mittheilbar machen, daß doch die Gründlichkeit nicht durch die Popularität verdrängt werde. Denn um der populären Vollkommenheit willen, dem Volke zu Gefallen, muß die scholastische Vollkommenheit nicht aufgeopfert werden, ohne welche alle Wissenschaft nichts als Spielwerk und Tändelei wäre.

Um aber wahre Popularität zu lernen, muß man die Alten lesen, z. B. Cicero′s philosophische Schriften, die Dichter Horaz, Virgil u. s. w., unter den Neueren Hume, Shaftesbury u. a. m.; Männer, die alle vielen Umgang mit der verfeinerten Welt gehabt haben, ohne den man nicht popular sein kann. Denn wahre Popularität erfordert viele praktische Welt- und Menschenkenntniß, Kenntniß von den Begriffen, dem Geschmacke und den Neigungen der Menschen, worauf bei der Darstellung und selbst der Wahl schicklicher, der Popularität angemessener Ausdrücke beständige Rücksicht zu nehmen ist. Eine solche Herablassung (Condescendenz) zu der Fassungskraft des Publicums und den gewohnten Ausdrücken, wobei die scholastische Vollkommenheit nicht hintenan gesetzt, sondern nur die Einkleidung der Gedanken so eingerichtet wird, daß man das Gerüst, das Schulgerechte und Technische von jener Vollkommenheit nicht sehen läßt (so wie man mit Bleistift Linien zieht, auf die man schreibt und sie nachher wegwischt,) — diese wahrhaft populare Vollkommenheit des Erkenntnisses ist in der That eine große und seltene Vollkommenheit, die von vieler Einsicht in die Wissenschaft zeigt. Auch hat sie außer vielen andern Verdiensten noch dieses, daß sie einen Beweis für die vollständige Einsicht in eine Sache geben kann. Denn die blos scholastische Prüfung einer Erkenntniß läßt noch den Zweifel übrig: ob die Prüfung nicht einseitig sei, und ob die Erkenntniß selbst auch wohl einen von allen Menschen ihr zugestandenen Werth habe? Die Schule hat ihre Vorurtheile so wie der gemeine Verstand. Eines verbessert hier das andere. Es ist daher wichtig, ein Erkenntniß an Menschen zu prüfen, deren Verstand an keiner Schule hängt.

Diese Vollkommenheit der Erkenntniß, wodurch sich dieselbe zu einer leichten und allgemeinen Mittheilung qualificirt, könnte man auch die äußere Extension oder die extensive Größe eines Erkenntnisses nennen, sofern es äußerlich unter viele Menschen ausgebreitet ist.


Da es so viele und mannigfaltige Erkenntnisse giebt, so wird man wohl thun, sich einen Plan zu machen, nach welchem man die Wissenschaften so ordnet, wie sie am besten zu seinen Zwecken zusammen stimmen und zu Beförderung derselben beitragen. Alle Erkenntnisse stehen unter einander in einer gewissen natürlichen Verknüpfung. Sieht man nun bei dem Bestreben nach Erweiterung der Erkenntnisse nicht auf diesen ihren Zusammenhang: so wird aus allem Vielwissen doch weiter nichts als blose Rhapsodie. Macht man sich aber eine Hauptwissenschaft zum Zweck und betrachtet alle andern Erkenntnisse nur als Mittel, um zu derselben zu gelangen: so bringt man in sein Wissen einen gewissen systematischen Character. Und um nach einem solchen wohlgeordneten und zweckmäßigen Plane bei Erweiterung seiner Erkenntnisse zu Werke zu gehen, muß man also jenen Zusammenhang der Erkenntnisse unter einander kennen zu lernen suchen. Dazu giebt die Architektonik der Wissenschaften Anleitung, die ein System nach Ideen ist, in welchem die Wissenschaften in Ansehung ihrer Verwandtschaft und systematischen Verbindung in einem Ganzen der die Menschheit interessirenden Erkenntniß betrachtet werden.


Was nun insbesondere aber die intensive Größe des Erkenntnisses, d. h. ihren Gehalt, oder ihre Vielgültigkeit und Wichtigkeit betrifft, die sich, wie wir oben bemerkten, von der extensiven Größe, der blosen Weitläuftigkeit desselben wesentlich unterscheidet: so wollen wir hierüber nur noch folgende wenige Bemerkungen machen:

  1. Eine Erkenntniß, die aufs Große, d. i. das Ganze im Gebrauch des Verstandes geht, ist von der Subtilität im Kleinen (Mikrologie) zu unterscheiden.
  2. Logisch wichtig ist jedes Erkenntniß zu nennen, das die logische Vollkommenheit der Form nach befördert, z. B. jeder mathematische Satz, jedes deutlich eingesehene Gesetz der Natur, jede richtige philosophische Erklärung. Die praktische Wichtigkeit kann man nicht voraus sehen, sondern man muß sie abwarten.
  3. Man muß die Wichtigkeit nicht mit der Schwere verwechseln. Ein Erkenntniß kann schwer sein, ohne wichtig zu sein, und umgekehrt. Schwere entscheidet daher weder für noch auch wider den Werth und die Wichtigkeit eines Erkenntnisses. Diese beruht auf der Größe oder Vielheit der Folgen. Je mehr oder je größere Folgen ein Erkenntniß hat, je mehr Gebrauch sich von ihm machen läßt, desto wichtiger ist es. Eine Erkenntniß ohne wichtige Folgen heißt eine Grübelei; dergleichen z. B. die scholastische Philosophie war.

VII.
B) Logische Vollkommenheit des Erkenntnisses der Relation nach. Wahrheit. Materiale und formale oder logische Wahrheit. Kriterien der logischen Wahrheit. Falschheit und Irrthum. Schein, als Quelle des Irrthums. Mittel zu Vermeidung der Irrthümer.

Eine Hauptvollkommenheit des Erkenntnisses, ja die wesentliche und unzertrennliche Bedingung aller Vollkommenheit desselben, ist die Wahrheit. Wahrheit, sagt man, besteht in der Uebereinstimmung der Erkenntniß mit dem Gegenstande. Dieser blosen Worterklärung zufolge soll also mein Erkenntniß, um als wahr zu gelten, mit dem Object übereinstimmen. Nun kann ich aber das Object nur mit meinem Erkenntnisse vergleichen, dadurch daß ich es erkenne. Meine Erkenntniß soll sich also selbst bestätigen, welches aber zur Wahrheit noch lange nicht hinreichend ist. Denn da das Object außer mir und die Erkenntniß in mir ist, so kann ich immer doch nur beurtheilen: ob meine Erkenntniß vom Object mit meiner Erkenntniß vom Object übereinstimme. Einen solchen Cirkel im Erklären nannten die Alten Diallele. Und wirklich wurde dieser Fehler auch immer den Logikern von den Skeptikern vorgeworfen, welche bemerkten: es verhalte sich mit jener Erklärung der Wahrheit eben so, wie wenn jemand vor Gericht eine Aussage thue und sich dabei auf einen Zeugen berufe, den niemand kenne, der sich aber dadurch glaubwürdig machen wolle, daß er behaupte, der, welcher ihn zum Zeugen aufgerufen, sei ein ehrlicher Mann. Die Beschuldigung war allerdings gegründet. Nur ist die Auflösung der gedachten Aufgabe schlechthin und für jeden Menschen unmöglich.

Es fragt sich nämlich hier: Ob und in wie fern es ein sicheres, allgemeines und in der Anwendung brauchbares Kriterium der Wahrheit gebe? Denn das soll die Frage: was ist Wahrheit? bedeuten.

Um diese wichtige Frage entscheiden zu können, müssen wir das, was in unserm Erkenntnisse zur Materie desselben gehört und auf das Object sich bezieht, von dem, was die blose Form, als diejenige Bedingung betrifft, ohne welche ein Erkenntniß gar kein Erkenntniß überhaupt sein würde, wohl unterscheiden. Mit Rücksicht auf diesen Unterschied zwischen der objectiven, materialen und der subjectiven, formalen Beziehung in unserm Erkenntnisse, zerfällt daher die obige Frage in die zwei besondern:

  1. Giebt es ein allgemeines materiales, und
  2. Giebt es ein allgemeines formales Kriterium der Wahrheit?

Ein allgemeines materiales Kriterium der Wahrheit ist nicht möglich; es ist sogar in sich selbst widersprechend. Denn als ein allgemeines, für alle Objecte überhaupt gültiges, müßte es von allem Unterschiede derselben völlig abstrahiren und doch auch zugleich als ein materiales Kriterium eben auf diesen Unterschied gehen, um bestimmen zu können, ob ein Erkenntniß gerade mit demjenigen Objecte, worauf es bezogen wird, und nicht mit irgend einem Object überhaupt — womit eigentlich gar nichts gesagt wäre — übereinstimme. In dieser Uebereinstimmung einer Erkenntniß mit demjenigen bestimmten Objecte, worauf sie bezogen wird, muß aber die materiale Wahrheit bestehen. Denn ein Erkenntniß, welches in Ansehung Eines Objectes wahr ist, kann in Beziehung auf andere Objecte falsch sein. Es ist daher ungereimt, ein allgemeines materiales Kriterium der Wahrheit zu fordern, das von allem Unterschiede der Objecte zugleich abstrahiren und auch nicht abstrahiren solle.

Ist nun aber die Frage nach allgemeinen formalen Kriterien der Wahrheit, so ist die Entscheidung hier leicht, daß es dergleichen allerdings geben könne. Denn die formale Wahrheit besteht lediglich in der Zusammenstimmung der Erkenntniß mit sich selbst bei gänzlicher Abstraction von allen Objecten insgesammt und von allem Unterschiede derselben. Und die allgemeinen formalen Kriterien der Wahrheit sind demnach nichts anders als allgemeine logische Merkmale der Uebereinstimmung der Erkenntniß mit sich selbst oder - welches einerlei ist - mit den allgemeinen Gesetzen des Verstandes und der Vernunft.

Diese formalen, allgemeinen Kriterien sind zwar freilich zur objectiven Wahrheit nicht hinreichend, aber sie sind doch als die conditio sine qua non derselben anzusehen.

Denn vor der Frage: ob die Erkenntniß mit dem Object zusammenstimme, muß die Frage vorhergehen, ob sie mit sich selbst (der Form nach) zusammenstimme? Und dies ist Sache der Logik.

Die formalen Kriterien der Wahrheit in der Logik sind

  1. der Satz des Widerspruchs,
  2. der Satz des zureichenden Grundes.

Durch den erstern ist die logische Möglichkeit, durch den letztern die logische Wirklichkeit eines Erkenntnisses bestimmt.

Zur logischen Wahrheit eines Erkenntnisses gehört nämlich

Erstlich: daß es logisch möglich sei, d. h. sich nicht widerspreche. Dieses Kennzeichen der innerlichen logischen Wahrheit ist aber nur negativ; denn ein Erkenntniß, welches sich widerspricht, ist zwar falsch, wenn es sich aber nicht widerspricht, nicht allemal wahr.

Zweitens: daß es logisch gegründet sei, d. h. daß es a) Gründe habe und b) nicht falsche Folgen habe.

Dieses zweite, den logischen Zusammenhang eines Erkenntnisses mit Gründen und Folgen betreffende Kriterium der äußerlichen logischen Wahrheit oder der Rationabilität des Erkenntnisses ist positiv. Und hier gelten folgende Regeln:

  1. Aus der Wahrheit der Folge läßt sich auf die Wahrheit des Erkenntnisses als Grundes schließen, aber nur negativ: wenn eine falsche Folge aus einer Erkenntniß fließt, so ist die Erkenntniß selbst falsch. Denn wenn der Grund wahr wäre, so müßte die Folge auch wahr sein, weil die Folge durch den Grund bestimmt wird.

Man kann aber nicht umgekehrt schließen: wenn keine falsche Folge aus einem Erkenntnisse fließt, so ist es wahr; denn man kann aus einem falschen Grunde wahre Folgen ziehen.

  1. Wenn alle Folgen eines Erkenntnisses wahr sind: so ist das Erkenntniß auch wahr. Denn wäre nur etwas Falsches im Erkenntnisse, so müßte auch eine falsche Folge Statt finden.

Aus der Folge läßt sich also zwar auf einen Grund schließen, aber ohne diesen Grund bestimmen zu können. Nur aus dem Inbegriffe aller Folgen allein kann man auf einen bestimmten Grund schließen, da dieser der wahre sei.

Die erstere Schlußart, nach welcher die Folge nur ein negativ und indirect zureichendes Kriterium der Wahrheit eines Erkenntnisses sein kann, heißt in der Logik die apagogische (modus tollens).

Dieses Verfahren, wovon in der Geometrie häufig Gebrauch gemacht wird, hat den Vortheil, daß ich aus einem Erkenntnisse nur Eine falsche Folge herleiten darf, um seine Falschheit zu beweisen. Um z. B. darzuthun, daß die Erde nicht platt sei, darf ich, ohne positive und directe Gründe vorzubringen, apagogisch und indirect nur so schließen: Wäre die Erde platt, so müßte der Polarstern immer gleich hoch sein; nun ist dieses aber nicht der Fall, folglich ist sie nicht platt.

Bei der andern, der positiven und directen Schlußart (modus ponens) tritt die Schwierigkeit ein, daß sich die Allheit der Folgen nicht apodiktisch erkennen läßt, und daß man daher durch die gedachte Schlußart nur zu einer wahrscheinlichen und hypothetisch-wahren Erkenntniß (Hypothesen) geführt wird, nach der Voraussetzung: daß da, wo viele Folgen wahr sind, die übrigen auch alle wahr sein mögen. —

Wir werden also hier drei Grundsätze, als allgemeine, blos formale oder logische Kriterien der Wahrheit aufstellen können; diese sind

  1. der Satz des Widerspruchs und der Identität (principium contradictionis und identitatis), durch welchen die innere Möglichkeit eines Erkenntnisses für problematische Urtheile bestimmt ist;
  2. der Satz des zureichenden Grundes (principium rationis sufficientis), auf welchem die (logische) Wirklichkeit einer Erkenntniß beruht, daß sie gegründet sei, als Stoff zu assertorischen Urtheilen;
  3. der Satz des ausschließenden Dritten (principium exclusi medii inter duo contradictoria), worauf sich die (logische) Nothwendigkeit eines Erkenntnisses gründet; daß nothwendig so und nicht anders geurtheilt werden müsse, d. i. daß das Gegentheil falsch sei, für apodiktische Urtheile.

Das Gegentheil von der Wahrheit ist die Falschheit, welche, sofern sie für Wahrheit gehalten wird, Irrthum heißt. Ein irriges Urtheil, — denn Irrthum sowohl als Wahrheit ist nur im Urtheile, — ist also ein solches, welches den Schein der Wahrheit mit der Wahrheit selbst verwechselt.

Wie Wahrheit möglich sei: das ist leicht einzusehen, da hier der Verstand nach seinen wesentlichen Gesetzen handelt.

Wie aber Irrthum in formaler Bedeutung des Worts, d. h. wie die verstandeswidrige Form des Denkens möglich sei: das ist schwer zu begreifen, so wie es überhaupt nicht zu begreifen ist, wie irgend eine Kraft von ihren eigenen wesentlichen Gesetzen abweichen solle. Im Verstande selbst und dessen wesentlichen Gesetzen können wir also den Grund der Irrthümer nicht suchen, so wenig als in den Schranken des Verstandes, in denen zwar die Ursache der Unwissenheit, keinesweges aber des Irrthumes liegt. Hätten wir nun keine andere Erkenntnißkraft als den Verstand, so würden wir nie irren. Allein es liegt, außer dem Verstande, noch eine andere unentbehrliche Erkenntnißquelle in uns. Das ist die Sinnlichkeit, die uns den Stoff zum Denken giebt und dabei nach andern Gesetzen wirkt als der Verstand. Aus der Sinnlichkeit an und für sich selbst betrachtet kann aber der Irrthum auch nicht entspringen, weil die Sinne gar nicht urtheilen.

Der Entstehungsgrund alles Irrthums wird daher einzig und allein in dem unvermerkten Einflusse der Sinnlichkeit auf den Verstand, oder genauer zu reden, auf das Urtheil, gesucht werden müssen. Dieser Einfluß nämlich macht, daß wir im Urtheilen blos subjective Gründe für objective halten und folglich den blosen Schein der Wahrheit mit der Wahrheit selbst verwechseln. Denn darin besteht eben das Wesen des Scheins, der um deswillen als ein Grund anzusehen ist, eine falsche Erkenntniß für wahr zu halten.

Was den Irrthum möglich macht, ist also der Schein, nach welchem im Urtheile das blos Subjective mit dem Objectiven verwechselt wird.

In gewissem Sinne kann man wohl den Verstand auch zum Urheber der Irrthümer machen, sofern er nämlich aus Mangel an erforderlicher Aufmerksamkeit auf jenen Einfluß der Sinnlichkeit sich durch den hieraus entsprungenen Schein verleiten läßt, blos subjective Bestimmungsgründe des Urtheils für objective zu halten, oder das, was nur nach Gesetzen der Sinnlichkeit wahr ist, für wahr nach seinen eigenen Gesetzen gelten zu lassen.

Nur die Schuld der Unwissenheit liegt demnach in den Schranken des Verstandes, die Schuld des Irrthums haben wir uns selbst beizumessen. Die Natur hat uns zwar viele Kenntnisse versagt, sie läßt uns über so Manches in einer unvermeidlichen Unwissenheit, aber den Irrthum verursacht sie doch nicht. Zu diesem verleitet uns unser eigener Hang zu urtheilen und zu entscheiden, auch da, wo wir wegen unserer Begrenztheit zu urtheilen und zu entscheiden nicht vermögend sind.


Aller Irrthum, in welchen der menschliche Verstand gerathen kann, ist aber nur partial, und in jedem irrigen Urtheile muß immer etwas Wahres liegen. Denn ein totaler Irrthum wäre ein gänzlicher Widerstreit wider die Gesetze des Verstandes und der Vernunft. Wie könnte er, als solcher, auf irgend eine Weise aus dem Verstande kommen, und, sofern er doch ein Urtheil ist, für ein Product des Verstandes gehalten werden!

In Rücksicht auf das Wahre und Irrige in unserer Erkenntniß unterscheiden wir ein genaues von einem rohen Erkenntnisse.

Genau ist das Erkenntniß, wenn es seinem Object angemessen ist, oder wenn in Ansehung seines Objects nicht der mindeste Irrthum Statt findet; — roh ist es, wenn Irrthümer darin sein können, ohne eben der Absicht hinderlich zu sein.

Dieser Unterschied betrifft die weitere oder engere Bestimmtheit unsers Erkenntnisses (cognitio late vel stricte determinata). Anfangs ist es zuweilen nöthig, ein Erkenntniß in einem weitern Umfange zu bestimmen (late determinare), besonders in historischen Dingen. In Vernunfterkenntnissen aber muß alles genau (stricte) bestimmt sein. Bei der laten Determination sagt man: ein Erkenntniß sei praeter propter determinirt. Es kommt immer auf die Absicht eines Erkenntnisses an, ob es roh oder genau bestimmt sein soll. Die late Determination läßt noch immer einen Spielraum für den Irrthum übrig, der aber doch seine bestimmten Grenzen haben kann. Irrthum findet besonders da Statt, wo eine late Determination für eine stricte genommen wird, z. B. in Sachen der Modalität, wo alles stricte determinirt sein muß. Die das nicht thun, werden von den Engländern Latitudinarier genannt.

Von der Genauigkeit, als einer objectiven Vollkommenheit des Erkenntnisses, da das Erkenntniß hier völlig mit dem Object congruirt kann man noch die Subtilität als eine subjective Vollkommenheit desselben unterscheiden.

Ein Erkenntniß von einer Sache ist subtil, wenn man darin dasjenige entdeckt, was Anderer Aufmerksamkeit zu entgehen pflegt. Es erfordert also einen höhern Grad von Aufmerksamkeit und einen größern Aufwand von Verstandeskraft.

Viele tadeln alle Subtilität, weil sie sie nicht erreichen können. Aber sie macht an sich immer dem Verstande Ehre und ist sogar verdienstlich und nothwendig, sofern sie auf einen der Beobachtung würdigen Gegenstand angewandt wird. Wenn man aber mit einer geringern Aufmerksamkeit und Anstrengung des Verstandes denselben Zweck hätte erreichen können, und man verwendet doch mehr darauf: so macht man unnützen Aufwand und verfällt in Subtilitäten, die zwar schwer sind, aber zu nichts nützen (nugae difficiles).

So wie dem Genauen das Rohe, so ist dem Subtilen das Grobe entgegengesetzt.


Aus der Natur des Irrthums, in dessen Begriffe, wie wir bemerkten, außer der Falschheit, noch der Schein der Wahrheit als ein wesentliches Merkmal enthalten ist, ergiebt sich für die Wahrheit unsers Erkenntnisses folgende wichtige Regel:

Um Irrthümer zu vermeiden, und unvermeidlich ist wenigstens absolut oder schlechthin kein Irrthum, ob er es gleich beziehungsweise sein kann für die Fälle, da es, selbst auf die Gefahr zu irren, unvermeidlich für uns ist, zu urtheilen, — also um Irrthümer zu vermeiden, muß man die Quelle derselben, den Schein, zu entdecken und zu erklären suchen. Das haben aber die wenigsten Philosophen gethan. Sie haben nur die Irrthümer selbst zu widerlegen gesucht, ohne den Schein anzugeben, woraus sie entspringen. Diese Aufdeckung und Auflösung des Scheines ist aber ein weit größeres Verdienst um die Wahrheit als die directe Widerlegung der Irrthümer selbst, wodurch man die Quelle derselben nicht verstopfen und es nicht verhüten kann, daß nicht der nämliche Schein, weil man ihn nicht kennt, in andern Fällen wiederum zu Irrthümern verleite. Denn sind wir auch überzeugt worden, daß wir geirrt haben: so bleiben uns doch, im Fall der Schein selbst, der unserm Irrthume zum Grunde liegt, nicht gehoben ist, noch Scrupel übrig, so wenig wir auch zu deren Rechtfertigung vorbringen können.

Durch Erklärung des Scheins läßt man überdies auch dem Irrenden eine Art von Billigkeit widerfahren. Denn es wird niemand zugeben, daß er ohne irgend einen Schein der Wahrheit geirrt habe, der vielleicht auch einen Scharfsinnigen hätte täuschen können, weil es hierbei auf subjective Gründe ankommt.

Ein Irrthum, wo der Schein auch dem gemeinen Verstande (sensus communis) offenbar ist, heißt eine Abgeschmacktheit oder Ungereimtheit. Der Vorwurf der Absurdität ist immer ein persönlicher Tadel, den man vermeiden muß, insbesondre bei Widerlegung der Irrthümer.

Denn demjenigen, welcher eine Ungereimtheit behauptet, ist selbst doch der Schein, der dieser offenbaren Falschheit zum Grunde liegt, nicht offenbar. Man muß ihm diesen Schein erst offenbar machen. Beharrt er auch alsdann noch dabei, so ist er freilich abgeschmackt; aber dann ist auch weiter nichts mehr mit ihm anzufangen. Er hat sich dadurch aller weitern Zurechtweisung und Widerlegung eben so unfähig als unwürdig gemacht. Denn man kann eigentlich Keinem beweisen, daß er ungereimt sei; hierbei wäre alles Vernünfteln vergeblich. Wenn man die Ungereimtheit beweist, so redet man nicht mehr mit dem Irrenden, sondern mit dem Vernünftigen. Aber da ist die Aufdeckung der Ungereimtheit (deductio ad absurdum) nicht nöthig.

Einen abgeschmackten Irrthum kann man auch einen solchen nennen, dem nichts, auch nicht einmal der Schein zur Entschuldigung dient; so wie ein grober Irrthum ein Irrthum ist, welcher Unwissenheit im gemeinen Erkenntnisse oder Verstoß wider gemeine Aufmerksamkeit beweist. Irrthum in Principien ist größer als in ihrer Anwendung.

Irrthum in Principien ist größer als in ihrer Anwendung.


Ein äußeres Merkmal oder ein äußerer Probirstein der Wahrheit ist die Vergleichung unserer eigenen mit Anderer Urtheilen, weil das Subjective nicht allen Andern auf gleiche Art beiwohnen wird, mithin der Schein dadurch erklärt werden kann. Die Unvereinbarkeit Anderer Urtheile mit den unsrigen ist daher als ein äußeres Merkmal des Irrthums und als ein Wink anzusehen, unser Verfahren im Urtheilen zu untersuchen, aber darum nicht sofort zu verwerfen. Denn man kann doch vielleicht recht haben in der Sache und nur unrecht in der Manier, d. i. dem Vortrage.

Der gemeine Menschenverstand (sensus communis) ist auch an sich ein Probirstein, um die Fehler des künstlichen Verstandesgebrauchs zu entdecken. Das heißt: sich im Denken oder im speculativen Vernunftgebrauche durch den gemeinen Verstand orientiren, wenn man den gemeinen Verstand als Probe zur Beurtheilung der Richtigkeit des speculativen gebraucht.


Allgemeine Regeln und Bedingungen der Vermeidung des Irrthums überhaupt sind: 1) selbst zu denken, 2) sich in der Stelle eines Andern zu denken, und 3) jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken. Die Maxime des Selbstdenkens kann man die aufgeklärte; die Maxime sich in Anderer Gesichtspunkte im Denken zu versetzen, die erweiterte; und die Maxime, jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken, die consequente oder bündige Denkart nennen.


VIII.
C) Logische Vollkommenheit des Erkenntnisses der Qualität nach. Klarheit. Begriff eines Merkmals überhaupt. Verschiedene Arten der Merkmale. Bestimmung des logischen Wesens einer Sache. Unterschied desselben vom Realwesen. Deutlichkeit, ein höherer Grad der Klarheit. Aesthetische und logische Deutlichkeit. Unterschied zwischen analytischer und synthetischer Deutlichkeit.

Das menschliche Erkenniß ist von Seiten des Verstandes discursiv, d. h. es geschieht durch Vorstellungen, die das, was mehreren Dingen gemein ist, zum Erkenntnißgrunde machen, mithin durch Merkmale, als solche. Wir erkennen also Dinge nur durch Merkmale und das heißt eben Erkennen, welches von Kennen herkommt.

Ein Merkmal ist dasjenige an einem Dinge, was einen Theil der Erkenntniß desselben ausmacht; oder, welches dasselbe ist, eine Partialvorstellung, sofern sie als Erkenntnißgrund der ganzen Vorstellung betrachtet wird. Alle unsere Begriffe sind demnach Merkmale und alles Denken ist nichts anders als ein Vorstellen durch Merkmale.

Ein jedes Merkmal läßt sich von zwei Seiten betrachten:

Erstlich, als Vorstellung an sich selbst;

Zweitens, als gehörig wie ein Theilbegriff zu der ganzen Vorstellung eines Dinges und dadurch als Erkenntnißgrund dieses Dinges selbst.

Alle Merkmale, als Erkenntnißgründe betrachtet, sind von zwiefachem Gebrauche, entweder einem innerlichen oder einem äußerlichen. Der innere Gebrauch besteht in der Ableitung, um durch Merkmale, als ihre Erkenntnißgründe, die Sache selbst zu erkennen. Der äußere Gebrauch besteht in der Vergleichung, sofern wir durch Merkmale ein Ding mit andern nach den Regeln der Identität oder Diversität vergleichen können.


Es giebt unter den Merkmalen mancherlei specifische Unterschiede, auf die sich folgende Classification derselben gründet.

  1. Analytische oder synthetische Merkmale. Jene sind Theilbegriffe meines wirklichen Begriffs (die ich darin schon denke,) diese dagegen sind Theilbegriffe des blos möglichen ganzen Begriffs, (der also durch eine Synthesis mehrerer Theile erst werden soll.) — Erstere sind alle Vernunftbegriffe, die letztern können Erfahrungsbegriffe sein.
  2. Coordinirte oder subordinirte. Diese Eintheilung der Merkmale betrifft ihre Verknüpfung nach oder unter einander.

Coordinirt sind die Merkmale, sofern ein jedes derselben als ein unmittelbares Merkmal der Sache vorgestellt wird; und subordinirt, sofern ein Merkmal nur vermittelst des andern an dem Dinge vorgestellt wird. Die Verbindung coordinirter Merkmale zum Ganzen des Begriffs heißt ein Aggregat; die Verbindung subordinirter Merkmale eine Reihe. Jene, die Aggregation coordinirter Merkmale macht die Totalität des Begriffs aus, die aber in Ansehung synthetischer empirischer Begriffe nie vollendet sein kann, sondern einer geraden Linie ohne Grenzen gleicht.

Die Reihe subordinirter Merkmale stößt a parte ante, oder auf Seiten der Gründe, an unauflösliche Begriffe, die sich ihrer Einfachheit wegen nicht weiter zergliedern lassen, a parte post , oder in Ansehung der Folgen hingegen, ist sie unendlich, weil wir zwar ein höchstes genus, aber keine unterste species haben.

Mit der Synthesis jedes neuen Begriffs in der Aggregation coordinirter Merkmale wächst die extensive oder ausgebreitete Deutlichkeit, so wie mit der weitern Analysis der Begriffe in der Reihe subordinirter Merkmale die intensive oder tiefe Deutlichkeit. Diese letztere Art der Deutlichkeit, da sie nothwendig zur Gründlichkeit und Bündigkeit des Erkenntnisses dient, ist darum hauptsächlich Sache der Philosophie und wird insbesondre in metaphysischen Untersuchungen am höchsten getrieben.

  1. Bejahende oder verneinende Merkmale. Durch jene erkennen wir, was das Ding ist; durch diese, was es nicht ist.

Die verneinenden Merkmale dienen dazu, uns von Irrthümern abzuhalten. Daher sind sie unnöthig, da wo es unmöglich ist zu irren, und nur nöthig und von Wichtigkeit in denjenigen Fällen, wo sie uns von einem wichtigen Irrthume abhalten, in den wir leicht gerathen können. So sind z. B. in Ansehung des Begriffs von einem Wesen, wie Gott, die verneinenden Merkmale sehr nöthig und wichtig.

Durch bejahende Merkmale wollen wir also etwas verstehen; durch verneinende, in die man alle Merkmale insgesammt verwandeln kann, nur nicht mißverstehen oder darin nur nicht irren, sollten wir auch nichts davon kennen lernen.

  1. Wichtige und fruchtbare oder leere und unwichtige Merkmale.

Ein Merkmal ist wichtig und fruchtbar, wenn es ein Erkenntnißgrund von großen und zahlreichen Folgen ist; theils in Ansehung seines innern Gebrauchs, des Gebrauchs in der Ableitung, sofern es hinreichend ist, um dadurch sehr viel an der Sache selbst zu erkennen, — theils in Rücksicht auf seinen äußeren Gebrauch, den Gebrauch in der Vergleichung, sofern es dazu dient, sowohl die Aehnlichkeit eines Dinges mit vielen andern als auch die Verschiedenheit desselben von vielen andern zu erkennen.

Uebrigens müssen wir hier die logische Wichtigkeit und Fruchtbarkeit von der praktischen, der Nützlichkeit und Brauchbarkeit unterscheiden.

  1. Zureichende und nothwendige oder unzureichende und zufällige Merkmale.

Ein Merkmal ist zureichend, sofern es hinreicht, das Ding jederzeit von allen andern zu unterscheiden; widrigenfalls ist es unzureichend, wie z. B. das Merkmal des Bellens vom Hunde. Die Hinlänglichkeit der Merkmale ist aber so gut wie ihre Wichtigkeit nur in einem relativen Sinne zu bestimmen, in Beziehung auf die Zwecke, welche durch ein Erkenntniß beabsichtigt werden.

Nothwendige Merkmale sind endlich diejenigen, die jederzeit bei der vorgestellten Sache müssen anzutreffen sein. Dergleichen Merkmale heißen auch wesentliche und sind den außerwesentlichen und zufälligen entgegengesetzt, die von dem Begriffe des Dinges getrennt werden können.

Unter den nothwendigen Merkmalen giebt es aber noch einen Unterschied.

Einige derselben kommen dem Dinge zu als Gründe anderer Merkmale von einer und derselben Sache; andere dagegen nur als Folgen von andern Merkmalen.

Die erstern sind primitive und constitutive Merkmale (constitutiva, essentialia in sensu strictissimo), die andern heißen Attribute (consectaria, rationata) und gehören zwar auch zum Wesen des Dinges, aber nur, sofern sie aus jenen wesentlichen Stücken desselben erst abgeleitet werden müssen; wie z. B. die drei Winkel im Begriffe eines Triangels aus den drei Seiten.

Die außerwesentlichen Merkmale sind auch wieder von zwiefacher Art, sie betreffen entweder innere Bestimmungen eines Dinges (modi) oder dessen äußere Verhältnisse (relationes). So bezeichnet z. B. das Merkmal der Gelehrsamkeit eine innere Bestimmung des Menschen; Herr oder Knechtsein, nur ein äußeres Verhältniß desselben.


Der Inbegriff aller wesentlichen Stücke eines Dinges oder die Hinlänglichkeit der Merkmale desselben der Coordination oder der Subordination nach, ist das Wesen (complexus notarum primitivarum, interne conceptui dato sufficientium; s. complexus notarum, conceptum aliquem primitive constituentium).

Bei dieser Erklärung müssen wir aber hier ganz und gar nicht an das Real- oder Natur-Wesen der Dinge denken, das wir überall nicht einzusehen vermögen. Denn da die Logik von allem Inhalte des Erkenntnisses, folglich auch von der Sache selbst abstrahirt; so kann in dieser Wissenschaft lediglich nur von dem logischen Wesen der Dinge die Rede sein. Und dieses können wir leicht einsehen. Denn dazu gehört weiter nichts als die Erkenntniß aller der Prädicate, in Ansehung deren ein Object durch seinen Begriff bestimmt ist; anstatt daß zum Real-Wesen des Dinges (Esse rei) die Erkenntniß derjenigen Prädicate erfordert wird, von denen alles, was zu seinem Dasein gehört, als Bestimmungsgründen, abhängt. Wollen wir z. B. das logische Wesen des Körpers bestimmen: so haben wir gar nicht nöthig die Data hierzu in der Natur aufzusuchen; wir dürfen unsere Reflexion nur auf die Merkmale richten, die als wesentliche Stücke ( constitutiva, rationes ) den Grundbegriff desselben ursprünglich constituiren. Denn das logische Wesen ist ja selbst nichts anders als der erste Grundbegriff aller nothwendigen Merkmale eines Dinges (Esse conceptus).


Die erste Stufe der Vollkommenheit unsers Erkenntnisses der Qualität nach ist also die Klarheit desselben. Eine zweite Stufe, oder ein höherer Grad der Klarheit, ist die Deutlichkeit. Diese besteht in der Klarheit der Merkmale.

Wir müssen hier zuvörderst die logische Deutlichkeit überhaupt von der ästhetischen unterscheiden. — Die logische beruht auf der objectiven, die ästhetische auf der subjectiven Klarheit der Merkmale. Jene ist eine Klarheit durch Begriffe, diese eine Klarheit durch Anschauung. Die letztere Art der Deutlichkeit besteht also in einer blosen Lebhaftigkeit und Verständlichkeit, d. h. in einer blosen Klarheit durch Beispiele in concreto, (denn verständlich kann vieles sein, was doch nicht deutlich ist, und umgekehrt kann Vieles deutlich sein, was doch schwer zu verstehen ist, weil es bis auf entfernte Merkmale zurückgeht, deren Verknüpfung mit der Anschauung nur durch eine lange Reihe möglich ist).

Die objective Deutlichkeit verursacht öfters subjective Dunkelheit und umgekehrt. Daher ist die logische Deutlichkeit nicht selten nur zum Nachtheil der ästhetischen möglich und umgekehrt wird oft die ästhetische Deutlichkeit durch Beispiele und Gleichnisse, die nicht genau passen, sondern nur nach einer Analogie genommen werden, der logischen Deutlichkeit schädlich. — Ueberdies sind auch Beispiele überhaupt keine Merkmale und gehören nicht als Theile zum Begriffe, sondern als Anschauungen nur zum Gebrauche des Begriffs. Eine Deutlichkeit durch Beispiele, die blose Verständlichkeit, ist daher von ganz anderer Art als die Deutlichkeit durch Begriffe als Merkmale. In der Verbindung beider, der ästhetischen oder populären mit der scholastischen oder logischen Deutlichkeit, besteht die Helligkeit. Denn unter einem hellen Kopfe denkt man sich das Talent einer lichtvollen, der Fassungskraft des gemeinen Verstandes angemessenen Darstellung abstracter und gründlicher Erkenntnisse.

Was nun hiernächst insbesondre die logische Deutlichkeit betrifft: so ist sie eine vollständige Deutlichkeit zu nennen, sofern alle Merkmale, die zusammen genommen den ganzen Begriff ausmachen, bis zur Klarheit gekommen sind. Ein vollständig oder complet deutlicher Begriff kann es nun hinwiederum sein, entweder in Ansehung der Totalität seiner coordinirten oder in Rücksicht auf die Totalität seiner subordinirten Merkmale. In der totalen Klarheit der coordinirten Merkmale besteht die extensiv vollständige oder zureichende Deutlichkeit eines Begriffs, die auch die Ausführlichkeit heißt. Die totale Klarheit der subordinirten Merkmale macht die intensiv vollständige Deutlichkeit aus, — die Profundität.

Die erstere Art der logischen Deutlichkeit kann auch die äußere Vollständigkeit (completudo externa), so wie die andere, die innere Vollständigkeit (completudo interna) der Klarheit der Merkmale genannt werden. Die letztere läßt sich nur von reinen Vernunftbegriffen und von willkürlichen Begriffen, nicht aber von empirischen erlangen.

Die extensive Größe der Deutlichkeit, sofern sie nicht abundant ist, heißt Präcision (Abgemessenheit). Die Ausführlichkeit (completudo) und Abgemessenheit (praecisio) zusammen machen die Angemessenheit aus (cognitionem, quae rem adaequat); und in der intensiv-adäquaten Erkenntniß, in der Profundität, verbunden mit der extensiv-adäquaten in der Ausführlichkeit und Präcision, besteht (der Qualität nach) die vollendete Vollkommenheit eines Erkenntnisses (consummata cognitionis perfectio).


Da es, wie wir bemerkt haben, das Geschäft der Logik ist, klare Begriffe deutlich zu machen, so frägt es sich nun: Auf welche Art sie dieselben deutlich mache?

Die Logiker aus der Wolff′schen Schule setzen alle Deutlichmachung der Erkenntnisse in die blose Zergliederung derselben. Allein nicht alle Deutlichkeit beruht auf der Analysis eines gegebenen Begriffs. Dadurch entsteht sie nur in Ansehung derjenigen Merkmale, die wir schon in dem Begriffe dachten, keineswegs aber in Rücksicht auf die Merkmale, die zum Begriffe erst hinzukommen, als Theile des ganzen möglichen Begriffs.

Diejenige Art der Deutlichkeit, die nicht durch Analysis, sondern durch Synthesis der Merkmale entspringt, ist die synthetische Deutlichkeit. Und es ist also ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Sätzen; einen deutlichen Begriff machen und: einen Begriff deutlich machen.

Denn wenn ich einen deutlichen Begriff mache: so fange ich von den Theilen an und gehe von diesen zum Ganzen fort. Es sind hier noch keine Merkmale vorhanden; ich erhalte dieselben erst durch die Synthesis. Aus diesem synthetischen Verfahren geht also die synthetische Deutlichkeit hervor, welche meinen Begriff durch das, was über denselben in der (reinen oder empirischen) Anschauung als Merkmal hinzukommt, dem Inhalte nach wirklich erweitert. — Dieses synthetischen Verfahrens in Deutlichmachung der Begriffe bedient sich der Mathematiker und auch der Naturphilosoph. Denn alle Deutlichkeit des eigentlich mathematischen so wie alles Erfahrungserkenntnisses beruht auf einer solchen Erweiterung desselben durch Synthesis der Merkmale.

Wenn ich aber einen Begriff deutlich mache: so wächst durch diese blose Zergliederung mein Erkenntniß ganz und gar nicht dem Inhalte nach. Dieser bleibt derselbe, nur die Form wird verändert, indem ich das, was in dem gegebenen Begriffe schon lag, nur besser unterscheiden oder mit klärerem Bewußtsein erkennen lerne. So wie durch die blose Illumination einer Karte zu ihr selbst nichts weiter hinzukommt: so wird auch durch die blose Aufhellung eines gegebenen Begriffs vermittelst der Analysis seiner Merkmale dieser Begriff selbst nicht im Mindesten vermehrt.

Zur Synthesis gehört die Deutlichmachung der Objecte, zur Analysis die Deutlichmachung der Begriffe. Hier geht das Ganze den Theilen, dort gehen die Theile dem Ganzen vorher. Der Philosoph macht nur gegebene Begriffe deutlich. Zuweilen verfährt man synthetisch, auch wenn der Begriff, den man auf diese Art deutlich machen will, schon gegeben ist. Dieses findet oft statt bei Erfahrungssätzen, wofern man mit den in einem gegebenen Begriffe schon gedachten Merkmalen noch nicht zufrieden ist.

Das analytische Verfahren, Deutlichkeit zu erzeugen, womit sich die Logik allein beschäftigen kann, ist das erste und hauptsächlichste Erforderni bei der Deutlichmachung unseres Erkenntnisses. Denn je deutlicher unser Erkenntniß von einer Sache ist: um so stärker und wirksamer kann es auch sein. Nur muß die Analysis nicht so weit gehen, daß darüber der Gegenstand selbst am Ende verschwindet.

Wären wir uns alles dessen bewußt, was wir wissen, so müßten wir über die große Menge unserer Erkenntnisse staunen.


In Ansehung des objectiven Gehaltes unserer Erkenntniß überhaupt lassen sich folgende Grade denken, nach welchen dieselbe in dieser Rücksicht kann gesteigert werden:

  • Der erste Grad der Erkenntniß ist: sich etwas vorstellen;
  • Der zweite: sich mit Bewußtsein etwas vorstellen oder wahrnehmen (percipere);
  • Der dritte: etwas kennen (noscere) oder sich etwas in der Vergleichung mit andern Dingen vorstellen sowohl der Einerleiheit als der Verschiedenheit nach;
  • Der vierte: mit Bewußtsein etwas kennen, d. h. erkennen(cognoscere). Die Thiere kennen auch Gegenstände, aber sie erkennen sie nicht.
  • Der fünfte: etwas verstehen (intelligere), d. h. durch den Verstand vermöge der Begriffe erkennen oder concipiren. Dieses ist vom Begreifen sehr unterschieden. Concipiren kann man Vieles, obgleich man es nicht begreifen kann. z. B. ein perpetuum mobile, dessen Unmöglichkeit in der Mechanik gezeigt wird.
  • Der sechste: etwas durch die Vernunft erkennen oder einsehen (perspicere). Bis dahin gelangen wir in wenigen Dingen und unsere Erkenntnisse werden der Zahl nach immer geringer, je mehr wir sie dem Gehalte nach vervollkommnen wollen.
  • Der siebente endlich: etwas begreifen (comprehendere), d. h. in dem Grade durch die Vernunft oder a priori erkennen, als zu unserer Absicht hinreichend ist. Denn alles unser Begreifen ist nur relativ, d. h. zu einer gewissen Absicht hinreichend, schlechthin begreifen wir gar nichts. Nichts kann mehr begriffen werden, als was der Mathematiker demonstrirt, z. B. daß alle Linien im Cirkel proportional sind. Und doch begreift er nicht: wie es zugehe, daß eine so einfache Figur diese Eigenschaften habe. Das Feld des Verstehens oder des Verstandes ist daher überhaupt weit größer als das Feld des Begreifens oder der Vernunft.

IX.
D) Logische Vollkommenheit des Erkenntnisses der Modalität nach. Gewißheit. Begriff des Fürwahrhaltens überhaupt. Modi des Fürwahrhaltens: Meinen, Glauben, Wissen. Ueberzeugung und Ueberredung. Zurückhalten und Aufschieben eines Urtheils. Vorläufige Urtheile. Vorurtheile, deren Quellen und Hauptarten.

Wahrheit ist objective Eigenschaft der Erkenntniß; das Urtheil, wodurch etwas als wahr vorgestellt wird; die Beziehung auf einen Verstand und also auf ein besonderes Subject ist subjectiv das Fürwahrhalten.

Das Fürwahrhalten ist überhaupt von zwiefacher Art: ein gewisses oder ein ungewisses. Das gewisse Fürwahrhalten oder die Gewißheit ist mit dem Bewußtsein der Nothwendigkeit verbunden; das ungewisse dagegen oder die Ungewißheit, mit dem Bewußtsein der Zufälligkeit oder der Möglichkeit des Gegentheils. Das letztere ist hinwiederum entweder sowohl subjectiv als objectiv unzureichend; oder zwar objectiv unzureichend, aber subjectiv zureichend. Jenes heißt Meinung, dieses muß Glaube genannt werden.

Es giebt hiernach drei Arten oder Modi des Fürwahrhaltens; Meinen, Glauben und Wissen. Das Meinen ist ein problematisches, das Glauben ein assertorisches und das Wissen ein apodiktisches Urtheilen. Denn was ich blos meine, das halte ich im Urtheilen mit Bewußtsein nur für problematisch; was ich glaube, für assertorisch, aber nicht als objectiv, sondern nur als subjectiv nothwendig (nur für mich geltend); was ich endlich weiß, für apodiktisch gewiß, d. i. für allgemein und objectiv nothwendig (für Alle geltend); gesetzt auch, daß der Gegenstand selbst, auf den sich dieses gewisse Fürwahrhalten bezieht, eine blos empirische Wahrheit wäre. Denn diese Unterscheidung des Fürwahrhaltens nach den so eben genannten drei modis betrifft nur die Urtheilskraft in Ansehung der subjectiven Kriterien der Subsumtion eines Urtheils unter objective Regeln.

So wäre z. B. unser Fürwahrhalten der Unsterblichkeit blos problematisch, wofern wir nur so handeln, als ob wir unsterblich wären; assertorisch aber, sofern wir glauben, daß wir unsterblich sind, und apodiktisch endlich, sofern wir Alle wüßten, daß es ein anderes Leben nach diesem giebt.

Zwischen Meinen, Glauben und Wissen findet demnach ein wesentlicher Unterschied statt, den wir hier noch genauer und ausführlicher auseinandersetzen wollen.

  1. Meinen. Das Meinen oder das Fürwahrhalten aus einem Erkenntnißgrunde, der weder subjectiv noch objectiv hinreichend ist, kann als ein vorläufiges Urtheilen (sub conditione suspensiva ad interim) angesehen werden, dessen man nicht leicht entbehren kann. Man muß erst meinen, ehe man annimmt und behauptet, sich dabei aber auch hüten, eine Meinung für etwas mehr als blose Meinung zu halten. Vom Meinen fangen wir größtenteils bei allem unserm Erkennen an. Zuweilen haben wir ein dunkles Vorgefühl von der Wahrheit, eine Sache scheint uns Merkmale der Wahrheit zu enthalten; wir ahnen ihre Wahrheit schon, noch ehe wir sie mit bestimmter Gewißheit erkennen.

Wo findet nun aber das blose Meinen eigentlich Statt? In keinen Wissenschaften, welche Erkenntnisse a priori enthalten; also weder in der Mathematik, noch in der Metaphysik, noch in der Moral, sondern lediglich in empirischen Erkenntnissen, — in der Physik, der Psychologie u. dgl. Denn es ist an sich ungereimt, a priori zu meinen. Auch könnte in der That nichts lächerlicher sein, als z. B. in der Mathematik nur zu meinen. hier, so wie in der Metaphysik und Moral, gilt es: entweder zu wissen oder nicht zu wissen. Meinungssachen können daher immer nur Gegenstände einer Erfahrungserkenntniß sein, die an sich zwar möglich, aber nur für uns unmöglich ist nach den empirischen Einschränkungen und Bedingungen unsers Erfahrungsvermögens und dem davon abhängenden Grade dieses Vermögens, den wir besitzen. So ist z. B. der Aether der neuern Physiker eine blose Meinungssache. Denn von dieser, so wie von jeder Meinung überhaupt, welche sie auch immer sein möge, sehe ich ein, daß das Gegentheil doch vielleicht könnte bewiesen werden. Mein Fürwahrhalten ist also hier objectiv sowohl als subjectiv unzureichend, obgleich es an sich betrachtet, vollständig werden kann.

  1. Glauben. Das Glauben oder das Fürwahrhalten aus einem Grunde, der zwar objectiv unzureichend, aber subjectiv zureichend ist, bezieht sich auf Gegenstände, in Ansehung deren man nicht allein nichts wissen, sondern auch nichts meinen, ja auch nicht einmal Wahrscheinlichkeit vorwenden, sondern blos gewiß sein kann, daß es nicht widersprechend ist, sich dergleichen Gegenstände so zu denken, wie man sie sich denkt. Das Uebrige hierbei ist ein freies Fürwahrhalten, welches nur in praktischer, a priori gegebener Absicht nöthig ist, also ein Fürwahrhalten dessen, was ich aus moralischen Gründen annehme und zwar so, daß ich gewiß bin, das Gegentheil könne nie bewiesen werden.*)
  • *) Das Glauben ist kein besonderer Erkenntnißquell. Es ist eine Art des mit Bewußtsein unvollständigen Fürwahrhaltens und unterscheidet sich, wenn es, als auf besondre Art Objecte (die nur fürs Glauben gehören) restringirt, betrachtet wird, vom Meinen nicht durch den Grad, sondern durch das Verhältniß, was es als Erkenntniß zum Handeln hat. So bedarf z. B. der Kaufmann, um einen Handel einzuschlagen, daß er nicht blos meine, es werde dabei was zu gewinnen sein, sondern daß er′s Glaube, d. i. daß seine Meinung zur Unternehmung aufs Ungewisse zureichend sei. — Nun haben wir theoretische Erkenntnisse (vom Sinnlichen), darin wir es zur Gewißheit bringen können und in Ansehung alles dessen, was wir menschliches Erkenntniß nennen können, muß das Letztere möglich sein. Eben solche gewisse Erkenntnisse und zwar gänzlich a priori haben wir in praktischen Gesetzen, allein diese gründen sich auf ein übersinnliches Princip (der Freiheit) und zwar in uns selbst, als ein Princip der praktischen Vernunft. Aber diese praktische Vernunft ist eine Causalität in Ansehung eines gleichfalls übersinnlichen Objects, des höchsten Guts, welches in der Sinnenwelt durch unser Vermögen nicht möglich ist. Gleichwohl muß die Natur als Object unserer theoretischen Vernunft dazu zusammenstimmen, denn es soll in der Sinnenwelt die Folge oder Wirkung von dieser Idee angetroffen werden. — Wir sollen also handeln, um diesen Zweck wirklich zu machen.
  • Wir finden in der Sinnenwelt auch Spuren einer Kunstweisheit, und nun glauben wir: die Weltursache wirke auch mit moralischer Weisheit zum höchsten Gut. Dieses ist ein Fürwahrhalten, welches genug ist zum Handeln, d. i. ein Glaube. — Nun bedürfen wir diesen nicht zum Handeln nach moralischen Gesetzen, denn die werden durch praktische Vernunft allein gegeben, aber wir bedürfen der Annahme einer höchsten Weisheit zum Object unsers moralischen Willens, worauf wir außer der blosen Rechtmäßigkeit unserer Handlungen nicht umhin können, unsere Zwecke zu richten. Obgleich dieses objectiv keine nothwendige Beziehung unserer Willkür wäre, so ist das höchste Gut doch subjectiv nothwendig das Object eines guten (selbst menschlichen) Willens, und der Glaube an die Erreichbarkeit desselben wird dazu nothwendig vorausgesetzt.
  • Zwischen der Erwerbung einer Erkenntniß durch Erfahrung (a posteriori) und durch die Vernunft (a priori) giebt es kein Mittleres. Aber zwischen der Erkenntniß eines Objects und der blosen Voraussetzung der Möglichkeit desselben giebt es ein Mittleres, nämlich einen empirischen oder einen Vernunftgrund die letztere anzunehmen in Beziehung auf eine nothwendige Erweiterung des Feldes möglicher Objecte über diejenige, deren Erkenntniß uns möglich ist. Diese Nothwendigkeit findet nur in Ansehung dessen statt, da das Object als praktisch und durch Vernunft praktisch nothwendig erkannt wird, denn zum Behuf der blosen Erweiterung der theoretischen Erkenntniß etwas anzunehmen, ist jederzeit zufällig. Diese praktisch nothwendige Voraussetzung eines Objects ist die der Möglichkeit des höchsten Guts als Objects der Willkür, mithin auch der Bedingung dieser Möglichkeit (Gott, Freiheit und Unsterblichkeit). Dieses ist eine subjective Nothwendigkeit, die Realität des Objects um der nothwendigen Willensbestimmung halber anzunehmen. Dies ist der casus extraordinarius, ohne welchen die praktische Vernunft sich nicht in Ansehung ihres nothwendigen Zwecks erhalten kann, und es kommt ihr hier favor necessitatis zu statten in ihrem eigenen Urtheil. Sie kann kein Object logisch erwerben, sondern sich nur [Seitenumbruch] allein dem widersetzen, was sie im Gebrauch dieser Idee, die ihr praktisch angehört, hindert.
  • Dieser Glaube ist die Nothwendigkeit, die objective Realität eines Begriffs (vom höchsten Gut) d. i. die Möglichkeit seines Gegenstandes, als a priori nothwendigen Objects der Willkür anzunehmen. — Wenn wir blos auf Handlungen sehen, so haben wir diesen Glauben nicht nöthig. Wollen wir aber durch Handlungen uns zum Besitz des dadurch möglichen Zwecks erweitern: so müssen wir annehmen, da dieser durchaus möglich sei. — Ich kann also nur sagen: ich sehe mich durch meinen Zweck nach Gesetzen der Freiheit genöthigt, ein höchstes Gut in der Welt als möglich anzunehmen, aber ich kann keinen Andern durch Gründe nöthigen; (der Glaube ist frei).
  • Der Vernunftglaube kann also nie aufs theoretische Erkenntniß gehen; denn da ist das objectiv unzureichende Fürwahrhalten blos Meinung. Er ist blos eine Voraussetzung der Vernunft in subjectiver, aber absolutnothwendiger praktischer Absicht. Die Gesinnung nach moralischen Gesetzen führt auf ein Object der durch reine Vernunft bestimmbaren Willkür. Das Annehmen der Thunlichkeit dieses Objects und also auch die Wirklichkeit der Ursache dazu ist ein moralischer Glaube oder ein freies und in moralischer Absicht der Vollendung seiner Zwecke nothwendiges Fürwahrhalten.

  • Fides ist eigentlich Treue im pacto oder subjectives Zutrauen zu einander, da einer dem Andern sein Versprechen halten werde, — Treue und Glauben. Das erste, wenn das pactum gemacht ist, das zweite, wenn man es schließen soll.
  • Nach der Analogie ist die praktische Vernunft gleichsam der Promittent, der Mensch der Promissarius, das erwartete Gute aus der That das Promissum.

Sachen des Glaubens sind also I) keine Gegenstände des empirischen Erkenntnisses. Der sogenannte historische Glaube kann daher eigentlich auch nicht Glaube genannt und als solcher dem Wissen entgegengesetzt werden, da er selbst ein Wissen sein kann. Das Fürwahrhalten auf ein Zeugniß ist weder dem Grade noch der Art nach vom Fürwahrhalten durch eigene Erfahrung unterschieden.

II) auch keine Objecte des Vernunfterkenntnisses (Erkenntnisses a priori), weder des theoretischen, z. B. in der Mathematik und Metaphysik, noch des praktischen in der Moral.

Mathematische Vernunftwahrheiten kann man auf Zeugnisse zwar glauben, weil Irrthum hier theils nicht leicht möglich ist, theils auch leicht entdeckt werden kann, aber man kann sie auf diese Art doch nicht wissen. Philosophische Vernunftwahrheiten lassen sich aber auch nicht einmal glauben, sie müssen lediglich gewußt werden; denn Philosophie leidet in sich keine blose Ueberredung. Und was insbesondre die Gegenstände des praktischen Vernunfterkenntnisses in der Moral, die Rechte und Pflichten, betrifft; so kann in Ansehung dieser eben so wenig ein bloses Glauben Statt finden. Man muß völlig gewiß sein: ob etwas recht oder unrecht, pflichtmäßig oder pflichtwidrig, erlaubt oder unerlaubt sei. Aufs Ungewisse kann man in moralischen Dingen nichts wagen, nichts auf die Gefahr des Verstoßes gegen das Gesetz beschließen. So ist es z. B. für den Richter nicht genug, daß er blos glaube, der eines Verbrechens wegen Angeklagte habe dieses Verbrechen wirklich begangen. Er muß es (juridisch) wissen, oder handelt gewissenlos.

III) Nur solche Gegenstände sind Sachen des Glaubens, bei denen das Fürwahrhalten nothwendig frei, d. h. nicht durch objective, von der Natur und dem Interesse des Subjects unabhängige Gründe der Wahrheit bestimmt ist.

Das Glauben giebt daher auch wegen der blos subjectiven Gründe keine Ueberzeugung, die sich mittheilen läßt und allgemeine Bestimmung gebietet, wie die Ueberzeugung, die aus dem Wissen kommt. Ich selbst kann nur von der Gültigkeit und Unveränderlichkeit meines praktischen Glaubens gewiß sein und mein Glaube an die Wahrheit eines Satzes oder die Wirklichkeit eines Dinges ist das, was in Beziehung auf mich nur die Stelle eines Erkenntnisses vertritt, ohne selbst ein Erkenntniß zu sein.

Moralisch ungläubig ist der, welcher nicht dasjenige annimmt, was zu wissen zwar unmöglich, aber vorauszusetzen, moralisch nothwendig ist. Dieser Art des Unglaubens liegt immer Mangel an moralischem Interesse zum Grunde. Je größer die moralische Gesinnung eines Menschen ist: desto fester und lebendiger wird auch sein Glaube sein an alles dasjenige, was er aus dem moralischen Interesse in praktisch nothwendiger Absicht anzunehmen und vorauszusetzen sich genöthigt fühlt.

  1. Wissen. Das Fürwahrhalten aus einem Erkenntnißgrunde, der sowohl objectiv als subjectiv zureichend ist, oder die Gewißheit ist entweder empirisch oder rational, je nachdem sie entweder auf Erfahrung, die eigene sowohl, als die fremde mitgetheilte, oder auf Vernunft sich gründet. Diese Unterscheidung bezieht sich also auf die beiden Quellen, woraus unser gesammtes Erkenntniß geschöpft wird: die Erfahrung und die Vernunft.

Die rationale Gewißheit ist hinwiederum entweder mathematische oder philosophische Gewißheit. Jene ist intuitiv, diese discursiv.

Die mathematische Gewißheit heißt auch Evidenz, weil ein intuitives Erkenntniß klärer ist als ein discursives. Obgleich also beides, das mathematische und das philosophische Vernunfterkenntniß an sich gleich gewiß ist: so ist doch die Art der Gewißheit in beiden verschieden.

Die empirische Gewißheit ist eine ursprüngliche (originarie empirica), sofern ich von etwas aus eigener Erfahrung, und eine abgeleitete (derivative empirica), sofern ich durch fremde Erfahrung wovon gewiß werde. Diese letztere pflegt auch die historische Gewißheit genannt zu werden.

Die rationale Gewißheit unterscheidet sich von der empirischen durch das Bewußtsein der Nothwendigkeit, das mit ihr verbunden ist, sie ist also eine apodiktische, die empirische dagegen nur eine assertorische Gewißheit. Rational gewiß ist man von dem, was man auch ohne alle Erfahrung a priori würde eingesehen haben. unsere Erkenntnisse können daher Gegenstände der Erfahrung betreffen und die Gewißheit davon kann doch empirisch und rational zugleich sein, sofern wir nämlich einen empirisch gewissen Satz aus Principien a priori erkennen.

Rationale Gewißheit können wir nicht von Allem haben; aber da, wo wir sie haben können, müssen wir sie der empirischen vorziehen.

Alle Gewißheit ist entweder eine unvermittelte oder eine vermittelte, d. h. sie bedarf entweder eines Beweises, oder ist keines Beweises fähig und bedürftig. Wenn auch noch so Vieles in unserm Erkenntnisse nur mittelbar, d. h. nur durch einen Beweis gewiß ist: so muß es doch auch etwas Indemonstrables oder unmittelbar Gewisses geben und unser gesammtes Erkenntniß muß von unmittelbar gewissen Sätzen ausgehen.

Die Beweise, auf denen alle vermittelte oder mittelbare Gewißheit eines Erkenntnisses beruht, sind entweder directe oder indirecte d. h. apagogische Beweise. Wenn ich eine Wahrheit aus ihren Gründen beweise, so führe ich einen directen Beweis für dieselbe, und wenn ich von der Falschheit des Gegentheils auf die Wahrheit eines Satzes schließe, einen apagogischen. Soll aber dieser letztere Gültigkeit haben, so müssen sich die Sätze contradictorisch oder diametraliter entgegengesetzt sein. Denn zwei einander blos conträr entgegengesetzte Sätze (contrarie opposita) können beide falsch sein. Ein Beweis, welcher der Grund mathematischer Gewißheit ist, heißt Demonstration und der der Grund philosophischer Gewißheit ist, ein akroamatischer Beweis. Die wesentlichen Stücke eines jeden Beweises überhaupt sind die Materie und die Form desselben; oder der Beweisgrund und die Consequenz.

Vom Wissen kommt Wissenschaft her, worunter der Inbegriff einer Erkenntniß als System zu verstehen ist. Sie wird der gemeinen Erkenntniß entgegengesetzt, d. i. dem Inbegriff einer Erkenntniß als blosem Aggregate. Das System beruht auf einer Idee des Ganzen, welche den Theilen vorangeht, beim gemeinen Erkenntnisse dagegen oder dem blosen Aggregate von Erkenntnissen gehen die Theile dem Ganzen vorher. Es giebt historische und Vernunftwissenschaften.

In einer Wissenschaft wissen wir oft nur die Erkenntnisse, aber nicht die dadurch vorgestellten Sachen; also kann es eine Wissenschaft von demjenigen geben, wovon unsere Erkenntniß kein Wissen ist.


Aus den bisherigen Bemerkungen über die Natur und die Arten des Fürwahrhaltens können wir nun das allgemeine Resultat ziehen: daß also alle unsere Ueberzeugung entweder logisch oder praktisch sei. Nämlich wenn wir wissen, daß wir frei sind von allen subjectiven Gründen und doch das Fürwahrhalten zureichend ist, so sind wir überzeugt und zwar logisch oder aus objectiven Gründen überzeugt (das Object ist gewiß.)

Das complete Fürwahrhalten aus subjectiven Gründen, die in praktischer Beziehung so viel, als objective gelten, ist aber auch Ueberzeugung, nur nicht logische, sondern praktische (ich bin gewiß.) Und diese praktische Ueberzeugung oder dieser moralische Vernunftglaube ist oft fester als alles Wissen. Beim Wissen hört man noch auf Gegengründe, aber beim Glauben nicht, weil es hierbei nicht auf objective Gründe, sondern auf das moralische Interesse des Subjects ankommt.*)

  • *) Diese praktische Ueberzeugung ist also der moralische Vernunftglaube, der allein im eigentlichsten Verstande ein Glaube genannt und als solcher dem Wissen und aller theoretischen oder logischen Ueberzeugung überhaupt entgegengesetzt werden muß, weil er nie zum Wissen sich erheben kann. Der sogenannte historische Glaube dagegen darf, wie schon bemerkt, nicht von dem Wissen unterschieden werden, da er, als eine Art des theoretischen oder logischen Fürwahrhaltens, selbst ein Wissen sein kann. Wir können mit derselben Gewißheit eine empirische Wahrheit auf das Zeugniß Anderer annehmen, als wenn wir durch Facta der eigenen Erfahrung dazu gelangt wären. Bei der erstern Art des empirischen Wissens ist etwas Trügliches, aber auch bei der letztern.
  • Das historische oder mittelbare empirische Wissen beruht auf der Zuverlässigkeit der Zeugnisse. Zu den Erfordernissen eines unverwerflichen Zeugen gehört: Authenticität (Tüchtigkeit) und Integrität.

Der Ueberzeugung steht die Ueberredung entgegen, ein Fürwahrhalten aus unzureichenden Gründen, von denen man nicht weiß, ob sie blos subjectiv oder auch objectiv sind.

Die Ueberredung geht oft der Ueberzeugung vorher. Wir sind uns vieler Erkenntnisse nur so bewußt, daß wir nicht urtheilen können, ob die Gründe unsers Fürwahrhaltens objectiv oder subjectiv sind. Wir müssen daher, um von der blosen Ueberredung zur Ueberzeugung gelangen zu können, zuvörderst überlegen, d. h. sehen, zu welcher Erkenntnißkraft ein Erkenntniß gehöre, und sodann untersuchen, d. i. prüfen, ob die Gründe in Ansehung des Objects zureichend oder unzureichend sind. Bei Vielen bleibt es bei der Ueberredung. Bei Einigen kommt es zur Ueberlegung, bei Wenigen zur Untersuchung. Der da weiß, was zur Gewißheit gehört, wird Ueberredung und Ueberzeugung nicht leicht verwechseln und sich also auch nicht leicht überreden lassen. Es giebt einen Bestimmungsgrund zum Beifall, der aus objectiven und subjectiven Gründen zusammengesetzt ist, und diese vermischte Wirkung setzen die mehresten Menschen nicht aus einander.

Obgleich jede Ueberredung der Form nach (formaliter) falsch ist, sofern nämlich hierbei eine ungewisse Erkenntniß gewiß zu sein scheint: so kann sie doch der Materie nach (materialiter) wahr sein. Und so unterscheidet sie sich denn auch von der Meinung, die eine ungewisse Erkenntniß ist, sofern sie für ungewiß gehalten wird.

Die Zulänglichkeit des Fürwahrhaltens (im Glauben) läßt sich auf die Probe stellen durch Wetten oder durch Schwören. Zu dem ersten ist comparative, zum zweiten absolute Zulänglichkeit objectiver Gründe nöthig, statt deren, wenn sie nicht vorhanden sind, dennoch ein schlechterdings subjectiv zureichendes Fürwahrhalten gilt.


Man pflegt sich oft der Ausdrücke zu bedienen: seinem Urtheile beipflichten; sein Urtheil zurückhalten, aufschieben oder aufgeben. Diese und ähnliche Redensarten scheinen anzudeuten, daß in unserm Urtheilen etwas Willkürliches sei, indem wir etwas für wahr halten, weil wir es für wahr halten wollen. Es frägt sich demnach hier: ob das Wollen einen Einfluß auf unsere Urtheile habe?

Unmittelbar hat der Wille keinen Einfluß auf das Fürwahrhalten; dies wäre auch sehr ungereimt. Wenn es heißt: wir glauben gern, was wir wünschen, so bedeutet das nur unsere gutartigen Wünsche, z. B. die des Vaters von seinen Kindern. Hätte der Wille einen unmittelbaren Einfluß auf unsere Ueberzeugung von dem, was wir wünschen: so würden wir uns beständig Chimären von einem glücklichen Zustande machen und sie sodann auch immer für wahr halten. Der Wille kann aber nicht wider überzeugende Beweise von Wahrheiten streiten, die seinen Wünschen und Neigungen zuwider sind.

Sofern aber der Wille den Verstand entweder zur Nachforschung einer Wahrheit antreibt oder davon abhält, muß man ihm einen Einfluß auf den Gebrauch des Verstandes und mithin auch mittelbar auf die Ueberzeugung selbst zugestehen, da diese so sehr von dem Gebrauche des Verstandes abhängt.

Was aber insbesondre die Aufschiebung oder Zurückhaltung unsers Urtheils betrifft, so besteht dieselbe in dem Vorsatze, ein blos vorläufiges Urtheil nicht zu einem bestimmenden werden zu lassen. Ein vorläufiges Urtheil ist ein solches, wodurch ich mir vorstelle, daß zwar mehr Gründe für die Wahrheit einer Sache, als wider dieselbe da sind, daß aber diese Gründe noch nicht zureichen zu einem bestimmenden oder definitiven Urtheile, dadurch ich geradezu für die Wahrheit entscheide. Das vorläufige Urtheilen ist also ein mit Bewußtsein blos problematisches Urtheilen.

Die Zurückhaltung des Urtheils kann in zwiefacher Absicht geschehen; entweder, um die Gründe des bestimmenden Urtheils aufzusuchen, oder um niemals zu urtheilen. Im erstern Falle heißt die Aufschiebung des Urtheils eine kritische (suspensio judicii indagatoria), im letztern eine skeptische (suspensio judicii sceptica). Denn der Skeptiker thut auf alles Urtheilen Verzicht, der wahre Philosoph dagegen suspendirt blos sein Urtheil, wofern er noch nicht genugsame Gründe hat, etwas für wahr zu halten.

Sein Urtheil nach Maximen zu suspendiren, dazu wird eine geübte Urtheilskraft erfordert, die sich nur bei zunehmendem Alter findet. Ueberhaupt ist die Zurückhaltung unsers Beifalls eine sehr schwere Sache, theils weil unser Verstand so begierig ist durch Urtheilen sich zu erweitern und mit Kenntnissen zu bereichern, theils weil unser Hang immer auf gewisse Sachen mehr gerichtet ist als auf andere. — Wer aber seinen Beifall oft hat zurücknehmen müssen und dadurch klug und vorsichtig geworden ist, wird ihn nicht so schnell geben, aus Furcht, sein Urtheil in der Folge wieder zurücknehmen zu müssen. Dieser Widerruf ist immer eine Kränkung und eine Ursache, auf alle anderen Kenntnisse ein Mißtrauen zu setzen.

Noch bemerken wir hier: daß es etwas anders ist, sein Urtheil in dubio, als es in suspenso zu lassen. Bei diesem habe ich immer ein Interesse für die Sache, bei jenem ist es nicht immer meinem Zwecke und Interesse gemäß zu entscheiden, ob die Sache wahr sei oder nicht.

Die vorläufigen Urtheile sind sehr nöthig, ja unentbehrlich für den Gebrauch des Verstandes bei allem Meditiren und Untersuchen. Denn sie dienen dazu, den Verstand bei seinen Nachforschungen zu leiten und ihm hierzu verschiedene Mittel an die Hand zu geben.

Wenn wir über einen Gegenstand meditiren, müssen wir immer schon vorläufig urtheilen und das Erkenntniß gleichsam schon wittern, das uns durch die Meditation zu Theil werden wird. Und wenn man auf Erfindungen oder Entdeckungen ausgeht, muß man sich immer einen vorläufigen Plan machen, sonst gehen die Gedanken blos aufs Ohngefähr. Man kann sich daher unter vorläufigen Urtheilen Maximen denken zur Untersuchung einer Sache. Auch Anticipationen könnte man sie nennen, weil man sein Urtheil von einer Sache schon anticipirt, noch ehe man das bestimmende hat. Dergleichen Urtheile haben also ihren guten Nutzen und es ließen sich sogar Regeln darüber geben, wie wir vorläufig über ein Object urtheilen sollen.


Von den vorläufigen Urtheilen müssen die Vorurtheile unterschieden werden.

Vorurtheile sind vorläufige Urtheile, in sofern sie als Grundsätze angenommen werden. Ein jedes Vorurtheil ist als ein Princip irriger Urtheile anzusehen und aus Vorurtheilen entspringen nicht Vorurtheile, sondern irrige Urtheile. Man muß daher die falsche Erkenntniß, die aus dem Vorurtheil entspringt, von ihrer Quelle, dem Vorurtheil selbst, unterscheiden. So ist z. B. die Bedeutung der Träume an sich selbst kein Vorurtheil, sondern ein Irrthum, der aus der angenommenen allgemeinen Regel entspringt: Was einigemal eintrifft, trifft immer ein oder ist immer für wahr zu halten. Und dieser Grundsatz, unter welchen die Bedeutung der Träume mit gehört, ist ein Vorurtheil.

Zuweilen sind die Vorurtheile wahre vorläufige Urtheile, nur da sie uns als Grundsätze oder als bestimmende Urtheile gelten, ist unrecht. Die Ursache von dieser Täuschung ist darin zu suchen, daß subjective Gründe fälschlich für objective gehalten werden, aus Mangel an Ueberlegung, die allem Urtheilen vorhergehen muß. Denn können wir auch manche Erkenntnisse, z. B. die unmittelbar gewissen Sätze, annehmen, ohne sie zu untersuchen, d. h. ohne die Bedingungen ihrer Wahrheit zu prüfen: so können und dürfen wir doch über nichts urtheilen, ohne zu überlegen, d. h. ohne ein Erkenntniß mit der Erkenntnißkraft, woraus es entspringen soll, (der Sinnlichkeit oder dem Verstande) zu vergleichen. Nehmen wir nun ohne diese Ueberlegung, die auch da nöthig ist, wo keine Untersuchung stattfindet, Urtheile an: so entstehen daraus Vorurtheile, oder Principien zu urtheilen aus subjectiven Ursachen, die fälschlich für objective Gründe gehalten werden.

Die Hauptquellen der Vorurtheile sind: Nachahmung, Gewohnheit und Neigung.

Die Nachahmung hat einen allgemeinen Einfluß auf unsere Urtheile; denn es ist ein starker Grund, das für wahr zu halten, was andere dafür ausgegeben haben. Daher das Vorurtheil: was alle Welt thut, ist Recht. Was die Vorurtheile betrifft, die aus der Gewohnheit entsprungen sind, so können sie nur durch die Länge der Zeit ausgerottet werden, indem der Verstand, durch Gegengründe nach und nach im Urtheilen aufgehalten und verzögert, dadurch allmählig zu einer entgegengesetzten Denkart gebracht wird. Ist aber ein Vorurtheil der Gewohnheit zugleich durch Nachahmung entstanden: so ist der Mensch, der es besitzt, davon schwerlich zu heilen. Ein Vorurtheil aus Nachahmung kann man auch den Hang zum passiven Gebrauch der Vernunft nennen, oder zum Mechanism der Vernunft statt der Spontaneität derselben unter Gesetzen.

Vernunft ist zwar ein thätiges Princip, das nichts von bloser Auctorität Anderer, auch nicht einmal, wenn es ihren reinen Gebrauch gilt, von der Erfahrung entlehnen soll. Aber die Trägheit sehr vieler Menschen macht, daß sie lieber in Anderer Fußtapfen treten als ihre eigenen Verstandeskräfte anstrengen. Dergleichen Menschen können immer nur Copien von Andern werden, und wären alle von der Art, so würde die Welt ewig auf einer und derselben Stelle bleiben. Es ist daher höchst nöthig und wichtig: die Jugend nicht, wie es gewöhnlich geschieht, zum blosen Nachahmen anzuhalten.

Es giebt so manche Dinge, die dazu beitragen, uns die Maxime der Nachahmung anzugewöhnen und dadurch die Vernunft zu einem fruchtbaren Boden von Vorurtheilen zu machen. Zu dergleichen Hülfsmitteln der Nachahmung gehören

  1. Formeln. Dieses sind Regeln, deren Ausdruck zum Muster der Nachahmung dient. Sie sind übrigens ungemein nützlich zur Erleichterung bei verwickelten Sätzen und der erleuchtetste Kopf sucht daher dergleichen zu erfinden.
  2. Sprüche, deren Ausdruck eine große Abgemessenheit eines prägnanten Sinnes hat, so daß es scheint, man könne den Sinn nicht mit weniger Worten umfassen. Dergleichen Aussprüche (dicta), die immer von Andern entlehnt werden müssen, denen man eine gewisse Unfehlbarkeit zutraut, dienen, um dieser Autorität willen, zur Regel und zum Gesetz. Die Aussprüche der Bibel heißen Sprüche κατ′ εξοχην.
  3. Sentenzen, d. i. Sätze, die sich empfehlen und ihr Ansehen oft Jahrhunderte hindurch erhalten, als Producte einer reifen Urtheilskraft durch den Nachdruck der Gedanken, die darin liegen.
  4. Canones. Dieses sind allgemeine Lehrsprüche, die den Wissenschaften zur Grundlage dienen und etwas Erhabenes und Durchdachtes andeuten. Man kann sie noch auf eine sententiöse Art ausdrücken, damit sie desto mehr gefallen.
  5. Sprüchwörter (proverbia). Dieses sind populäre Regeln des gemeinen Verstandes oder Ausdrücke zu Bezeichnung der populären Urtheile desselben. Da dergleichen blos provinziale Sätze nur dem gemeinen Pöbel zu Sentenzen und Canonen dienen: so sind sie bei Leuten von feinerer Erziehung nicht anzutreffen.

Aus den vorhin angegebenen drei allgemeinen Quellen der Vorurtheile, und insbesondere auch der Nachahmung, entspringen nun so manche besondre Vorurtheile, unter denen wir folgende, als die gewöhnlichsten, hier berühren wollen.

  1. Vorurtheile des Ansehens. Zu diesen ist zu rechnen:
    1. das Vorurtheil des Ansehens der Person. Wenn wir in Dingen, die auf Erfahrung und Zeugnissen beruhen, unsere Erkenntniß auf das Ansehen anderer Personen bauen: so machen wir uns dadurch keiner Vorurtheile schuldig; denn in Sachen dieser Art muß, da wir nicht alles selbst erfahren und mit unserm eigenen Verstande umfassen können, das Ansehen der Person die Grundlage unserer Urtheile sein. Wenn wir aber das Ansehen Anderer zum Grunde unsers Fürwahrhaltens in Absicht auf Vernunfterkenntnisse machen: so nehmen wir diese Erkenntnisse auf bloses Vorurtheil an. Denn Vernunftwahrheiten gelten anonymisch; hier ist nicht die Frage: wer hat es gesagt, sondern was hat er gesagt? Es liegt nichts daran, ob ein Erkenntniß von edler Herkunft ist; aber dennoch ist der Hang zum Ansehen großer Männer sehr gemein, theils wegen der Eingeschränktheit eigner Einsicht, theils aus Begierde, dem nachzuahmen, was uns als groß beschrieben wird. Hierzu kommt noch: daß das Ansehen der Person dazu dient, unserer Eitelkeit auf eine indirecte Weise zu schmeicheln. So wie nämlich die Unterthanen eines mächtigen Despoten stolz darauf sind, daß sie nur alle gleich von ihm behandelt werden, indem der Geringste mit dem Vornehmsten in so fern sich gleich dünken kann, als sie beide gegen die unumschränkte Macht ihres Beherrschers nichts sind, so beurtheilen sich auch die Verehrer eines großen Mannes als gleich, sofern die Vorzüge, die sie unter einander selbst haben mögen, gegen die Verdienste des großen Mannes betrachtet, für unbedeutend zu achten sind. Die hochgepriesenen großen Männer thun daher dem Hange zum Vorurtheile des Ansehens der Person aus mehr als einem Grunde keinen geringen Vorschub.
    2. Das Vorurtheil des Ansehens der Menge. Zu diesem Vorurtheil ist hauptsächlich der Pöbel geneigt. Denn da er die Verdienste, die Fähigkeiten und Kenntnisse der Person nicht zu beurtheilen vermag: so hält er sich lieber an das Urtheil der Menge, unter der Voraussetzung, daß das, was Alle sagen, wohl wahr sein müsse. Indessen bezieht sich dieses Vorurtheil bei ihm nur auf historische Dinge, in Religionssachen, bei denen er selbst interessirt ist, verläßt er sich auf das Urtheil der Gelehrten.
      Es ist überhaupt merkwürdig, daß der Unwissende ein Vorurtheil für die Gelehrsamkeit hat und der Gelehrte dagegen wiederum ein Vorurtheil für den gemeinen Verstand.
      Wenn dem Gelehrten, nachdem er den Kreis der Wissenschaften schon ziemlich durchlaufen ist, alle seine Bemühungen nicht die gehörige Genugthuung verschaffen: so bekommt er zuletzt ein Mißtrauen gegen die Gelehrsamkeit, insbesondre in Ansehung solcher Speculationen, wo die Begriffe nicht sinnlich gemacht werden können, und deren Fundamente schwankend sind, wie z. B. in der Metaphysik. Da er aber doch glaubt, der Schlüssel zur Gewißheit über gewisse Gegenstände müsse irgendwo zu finden sein: so sucht er ihn nun beim gemeinen Verstande, nachdem er ihn so lange vergebens auf dem Wege des wissenschaftlichen Nachforschens gesucht hatte.
      Allein diese Hoffnung ist sehr trüglich, denn wenn das cultivirte Vernunftvermögen in Absicht auf die Erkenntniß gewisser Dinge nichts ausrichten kann, so wird es das uncultivirte sicherlich eben so wenig. In der Metaphysik ist die Berufung auf die Aussprüche des gemeinen Verstandes überall ganz unzulässig, weil hier kein Fall in concreto kann dargestellt werden. Mit der Moral hat es aber freilich eine andere Bewandniß. Nicht nur können in der Moral alle Regeln in concreto gegeben werden, sondern die praktische Vernunft offenbart sich auch überhaupt klärer und richtiger durch das Organ des gemeinen als durch das des speculativen Verstandesgebrauchs. Daher der gemeine Verstand über Sachen der Sittlichkeit und Pflicht oft richtiger urtheilt als der speculative.
    3. Das Vorurtheil des Ansehens des Zeitalters. Hier ist das Vorurtheil des Alterthums eines der bedeutendsten. Wir haben zwar allerdings Grund vom Alterthum günstig zu urtheilen, aber das ist nur ein Grund zu einer gemäßigten Achtung, deren Grenzen wir nur zu oft dadurch überschreiten, daß wir die Alten zu Schatzmeistern der Erkenntnisse und Wissenschaften machen, den relativen Werth ihrer Schriften zu einem absoluten erheben und ihrer Leitung uns blindlings anvertrauen. Die Alten so übermäßig schätzen, heißt: den Verstand in seine Kinderjahre zurückführen und den Gebrauch des selbsteigenen Talentes vernachlässigen. Auch würden wir uns sehr irren, wenn wir glaubten, daß Alle aus dem Alterthum so classisch geschrieben hätten, wie die, deren Schriften bis auf uns gekommen sind. Da nämlich die Zeit alles sichtet und nur das sich erhält, was einen innern Werth hat: so dürfen wir nicht ohne Grund annehmen, daß wir nur die besten Schriften der Alten besitzen.
      Es giebt mehrere Ursachen, durch die das Vorurtheil des Alterthums erzeugt und unterhalten wird.
      Wenn etwas die Erwartung nach einer allgemeinen Regel übertrifft, so verwundert man sich anfangs darüber und diese Verwunderung geht sodann oft in Bewunderung über. Dieses ist der Fall mit den Alten, wenn man bei ihnen etwas findet, was man, in Rücksicht auf die Zeitumstände, unter welchen sie lebten, nicht suchte. Eine andere Ursache liegt in dem Umstande, daß die Kenntniß von den Alten und dem Alterthum eine Gelehrsamkeit und Belesenheit beweist, die sich immer Achtung erwirbt, so gemein und unbedeutend die Sachen an sich selbst sein mögen, die man aus dem Studium der Alten geschöpft hat. Eine dritte Ursache ist die Dankbarkeit, die wir den Alten dafür schuldig sind, daß sie uns die Bahn zu vielen Kenntnissen gebrochen. Es scheint billig zu sein, ihnen dafür eine besondre Hochschätzung zu beweisen, deren Maaß wir aber oft überschreiten. Eine vierte Ursache ist endlich zu suchen in einem gewissen Neide gegen die Zeitgenossen. Wer es mit den Neuern nicht aufnehmen kann, preist auf Unkosten derselben die Alten hoch, damit sich die Neuern nicht über ihn erheben können. —
      Das entgegengesetzte von diesem ist das Vorurtheil der Neuigkeit. Zuweilen fiel das Ansehen des Alterthums und das Vorurtheil zu Gunsten desselben, insbesondre im Anfange dieses Jahrhunderts, als der berühmte Fontenelle sich auf die Seite der Neuern schlug. Bei Erkenntnissen, die einer Erweiterung fähig sind, ist es sehr natürlich, daß wir in die Neuern mehr Zutrauen setzen als in die Alten. Aber dieses Urtheil hat auch nur Grund als ein bloses vorläufiges Urtheil. Machen wir es zu einem bestimmenden, so wird es Vorurtheil.
  2. Vorurtheile aus Eigenliebe oder logischem Egoismus, nach welchem man die Uebereinstimmung des eigenen Urtheils mit den Urtheilen Anderer für ein entbehrliches Kriterium der Wahrheit hält. Sie sind den Vorurtheilen des Ansehens entgegengesetzt, da sie sich in einer gewissen Vorliebe für das äußern, was ein Product des eigenen Verstandes ist, z. B. des eigenen Lehrgebäudes.

Ob es gut und rathsam sei, Vorurtheile stehen zu lassen oder sie wohl gar zu begünstigen? — Es ist zum Erstaunen, daß in unserm Zeitalter dergleichen Fragen, besonders die wegen Begünstigung der Vorurtheile, noch können aufgegeben werden. Jemandes Vorurtheile begünstigen, heißt eben so viel als Jemanden in guter Absicht betrügen. Vorurtheile unangetastet lassen, ginge noch an; denn wer kann sich damit beschäftigen, eines Jeden Vorurtheile aufzudecken und wegzuschaffen. Ob es aber nicht rathsam sein sollte, an ihrer Ausrottung mit allen Kräften zu arbeiten, das ist doch eine andere Frage. Alte und eingewurzelte Vorurtheile sind freilich schwer zu bekämpfen, weil sie sich selbst verantworten und gleichsam ihre eigenen Richter sind. Auch sucht man das Stehenlassen der Vorurtheile damit zu entschuldigen, daß aus ihrer Ausrottung Nachtheile entstehen würden. Aber man lasse diese Nachtheile nur immer zu, in der Folge werden sie desto mehr Gutes bringen.


X.
Wahrscheinlichkeit. Erklärung des Wahrscheinlichen. Unterschied der Wahrscheinlichkeit von der Scheinbarkeit. Mathematische und philosophische Wahrscheinlichkeit. Zweifel, subjectiver und objectiver. Skeptische, dogmatische und kritische Denkart oder Methode des Philosophirens. Hypothesen.

Zur Lehre von der Gewißheit unsers Erkenntnisses gehört auch die Lehre von der Erkenntniß des Wahrscheinlichen, das als eine Annäherung zur Gewißheit anzusehen ist.

Unter Wahrscheinlichkeit ist ein Fürwahrhalten aus unzureichenden Gründen zu verstehen, die aber zu den zureichenden ein größeres Verhältniß haben, als die Gründe des Gegentheils. Durch diese Erklärung unterscheiden wir die Wahrscheinlichkeit (probabilitas) von der blosen Scheinbarkeit (verisimilitudo), einem Fürwahrhalten aus unzureichenden Gründen, in soferne dieselben größer sind als die Gründe des Gegentheils.

Der Grund des Fürwahrhaltens kann nämlich entweder objectiv oder subjectiv größer sein als der des Gegentheils. Welches von beiden er sei, das kann man nur dadurch ausfindig machen, daß man die Gründe des Fürwahrhaltens mit den zureichenden vergleicht; denn alsdenn sind die Gründe des Fürwahrhaltens größer, als die Gründe des Gegentheils sein können. Bei der Wahrscheinlichkeit ist also der Grund des Fürwahrhaltens objectiv gültig, bei der blosen Scheinbarkeit dagegen nur subjectiv gültig. Die Scheinbarkeit ist blos Größe der Ueberredung, die Wahrscheinlichkeit ist eine Annäherung zur Gewißheit. Bei der Wahrscheinlichkeit muß immer ein Maßstab da sein, wonach ich sie schätzen kann. Dieser Maßstab ist die Gewißheit. Denn indem ich die unzureichenden Gründe mit den zureichenden vergleichen soll, muß ich wissen, wie viel zur Gewißheit gehört. Ein solcher Maßstab fällt aber bei der blosen Scheinbarkeit weg, da ich hier die unzureichenden Gründe nicht mit den zureichenden, sondern nur mit den Gründen des Gegentheils vergleiche.

Die Momente der Wahrscheinlichkeit können entweder gleichartig oder ungleichartig sein. Sind sie gleichartig, wie im mathematischen Erkenntnisse: so müssen sie numerirt werden; sind sie ungleichartig, wie im philosophischen Erkenntnisse: so müssen sie ponderirt, d. i. nach der Wirkung geschätzt werden; diese aber nach der Ueberwältigung der Hindernisse im Gemüthe. Letztere geben kein Verhältniß zur Gewißheit, sondern nur einer Scheinbarkeit zur andern. Hieraus folgt: daß nur der Mathematiker das Verhältniß unzureichender Gründe zum zureichenden Grunde bestimmen kann, der Philosoph muß sich mit der Scheinbarkeit, einem blos subjectiv und praktisch hinreichenden Fürwahrhalten begnügen. Denn im philosophischen Erkenntnisse läßt sich wegen der Ungleichartigkeit der Gründe die Wahrscheinlichkeit nicht schätzen; die Gewichte sind hier, so zu sagen, nicht alle gestempelt. Von der mathematischen Wahrscheinlichkeit kann man daher auch eigentlich nur sagen: daß sie mehr als die Hälfte der Gewißheit sei.

Man hat viel von einer Logik der Wahrscheinlichkeit (logica probabilium) geredet. Allein diese ist nicht möglich; denn wenn sich das Verhältniß der unzureichenden Gründe zum zureichenden nicht mathematisch erwägen läßt: so helfen alle Regeln nichts. Auch kann man überall keine allgemeinen Regeln der Wahrscheinlichkeit geben, außer daß der Irrthum nicht auf einerlei Seite treffen werde, sondern ein Grund der Einstimmung sein müsse im Object; ingleichen: daß, wenn von zwei entgegengesetzten Seiten in gleicher Menge und Grade geirrt wird, im Mittel die Wahrheit sei.


Zweifel ist ein Gegengrund oder ein bloses Hinderniß des Fürwahrhaltens, das entweder subjectiv oder objectiv betrachtet werden kann. Subjectiv nämlich wird Zweifel bisweilen genommen als ein Zustand eines unentschlossenen Gemüths, und objectiv als die Erkenntniß der Unzulänglichkeit der Gründe zum Fürwahrhalten. In der letztern Rücksicht heißt er ein Einwurf, das ist: ein objectiver Grund, ein für wahr gehaltenes Erkenntniß für falsch zu halten.

Ein blos subjectiv gültiger Gegengrund des Fürwahrhaltens ist ein Scrupel. Beim Scrupel weiß man nicht, ob das Hinderniß des Fürwahrhaltens objectiv oder nur subjectiv, z. B. nur in der Neigung, der Gewohnheit u. dgl. m. gegründet sei. Man zweifelt, ohne sich über den Grund des Zweifelns deutlich und bestimmt erklären und ohne einsehen zu können: ob dieser Grund im Object selbst oder nur im Subjecte liege. Sollen nun solche Scrupel hinweggenommen werden können, so müssen sie zur Deutlichkeit und Bestimmtheit eines Einwurfs erhoben werden. Denn durch Einwürfe wird die Gewißheit zur Deutlichkeit und Vollständigkeit gebracht, und Keiner kann von einer Sache gewiß sein, wenn nicht Gegengründe rege gemacht worden, wodurch bestimmt werden kann, wie weit man noch von der Gewißheit entfernt, oder wie nahe man noch derselben sei. Auch ist es nicht genug: daß ein jeder Zweifel blos beantwortet werde; man muß ihn auch auflösen, das heißt: begreiflich machen, wie der Scrupel entstanden ist. Geschieht dieses nicht: so wird der Zweifel nur abgewiesen, aber nicht aufgehoben; der Same des Zweifelns bleibt dann immer noch übrig. In vielen Fällen können wir freilich nicht wissen: ob das Hinderniß des Fürwahrhaltens in uns nur subjective oder objective Gründe habe und also den Scrupel nicht heben durch Aufdeckung des Scheines, da wir unsere Erkenntnisse nicht immer mit dem Object, sondern oft nur unter einander selbst vergleichen können. Es ist daher Bescheidenheit, seine Einwürfe nur als Zweifel vorzutragen.


Es giebt einen Grundsatz des Zweifelns, der in der Maxime besteht, Erkenntnisse in der Absicht zu behandeln, daß man sie ungewiß macht und die Unmöglichkeit zeigt, zur Gewißheit zu gelangen. Diese Methode des Philosophirens ist die skeptische Denkart oder der Skepticismus. Sie ist der dogmatischen Denkart oder dem Dogmatismus entgegengesetzt, der ein blindes Vertrauen ist auf das Vermögen der Vernunft, ohne Kritik sich a priori durch blose Begriffe zu erweitern, blos um des scheinbaren Gelingens derselben.

Beide Methoden sind, wenn sie allgemein werden, fehlerhaft. Denn es giebt viele Kenntnisse, in Ansehung deren wir nicht dogmatisch verfahren können, und von der andern Seite vertilgt der Skepticism, indem er auf alle behauptende Erkenntniß Verzicht thut, alle unsere Bemühungen zum Besitz einer Erkenntniß des Gewissen zu gelangen.

So schädlich nun aber auch dieser Skepticismus ist, so nützlich und zweckmäßig ist doch die skeptische Methode, wofern man darunter nichts weiter als nur die Art versteht, etwas als ungewiß zu behandeln und auf die höchste Ungewißheit zu bringen, in der Hoffnung, der Wahrheit auf diesem Wege auf die Spur zu kommen. Diese Methode ist also eigentlich eine blose Suspension des Urtheilens. Sie ist dem kritischen Verfahren sehr nützlich, worunter diejenige Methode des Philosophirens zu verstehen ist, nach welcher man die Quellen seiner Behauptungen oder Einwürfe untersucht, und die Gründe, worauf dieselben beruhen; eine Methode, welche Hoffnung giebt, zur Gewißheit zu gelangen.

In der Mathematik und Physik findet der Skepticism nicht statt. Nur diejenige Erkenntniß hat ihn veranlassen können, die weder mathematisch noch empirisch ist; die rein philosophische. Der absolute Skepticismus giebt Alles für Schein aus. Er unterscheidet also Schein von Wahrheit und muß mithin doch ein Merkmal des Unterschiedes haben, folglich ein Erkenntniß der Wahrheit voraussetzen, wodurch er sich selbst widerspricht.


Wir bemerkten oben von der Wahrscheinlichkeit, daß sie eine blose Annäherung zur Gewißheit sei. Dieses ist nun insbesondre auch der Fall mit den Hypothesen, durch die wir nie zu einer apodiktischen Gewißheit, sondern immer nur zu einem bald größern, bald geringern Grade der Wahrscheinlichkeit in unserm Erkenntnisse gelangen können.

Eine Hypothese ist ein Fürwahrhalten des Urtheils von der Wahrheit eines Grundes um der Zulänglichkeit der Folgen willen, oder kürzer; das Fürwahrhalten einer Voraussetzung als Grundes.

Alles Fürwahrhalten in Hypothesen gründet sich demnach darauf, daß die Voraussetzung, als Grund, hinreichend ist, andere Erkenntnisse, als Folgen, daraus zu erklären. Denn wir schließen hier von der Wahrheit der Folge auf die Wahrheit des Grundes. Da aber diese Schlußart, wie oben bereits bemerkt worden, nur dann ein hinreichendes Kriterium der Wahrheit giebt und zu einer apodiktischen Gewißheit führen kann, wenn alle möglichen Folgen eines angenommenen Grundes wahr sind; so erhellt hieraus, daß, da wir nie alle möglichen Folgen bestimmen können, Hypothesen immer Hypothesen bleiben, das heißt: Voraussetzungen, zu deren völliger Gewißheit wir nie gelangen können. Demohngeachtet kann die Wahrscheinlichkeit einer Hypothese doch wachsen und zu einem Analogon der Gewißheit sich erheben, wenn nämlich alle Folgen, die uns bis jetzt vorgekommen sind, aus dem vorausgesetzten Grunde sich erklären lassen. Denn in einem solchen Falle ist kein Grund da, warum wir nicht annehmen sollten, daß sich daraus alle möglichen Folgen werden erklären lassen. Wir ergeben uns also in diesem Falle der Hypothese, als wäre sie völlig gewiß, obgleich sie es nur durch Induction ist.

Und etwas muß doch auch in jeder Hypothese apodiktisch gewiß sein, nämlich

  1. die Möglichkeit der Voraussetzung selbst. Wenn wir z. B. zu Erklärung der Erdbeben und Vulcane ein unterirdisches Feuer annehmen, so muß ein solches Feuer doch möglich sein, wenn auch eben nicht als ein flammender, doch als ein hitziger Körper. Aber zum Behuf gewisser anderer Erscheinungen die Erde zu einem Thiere zu machen, in welchem die Circulation der inneren Säfte die Wärme bewirke, heißt eine blose Erdichtung und keine Hypothese aufstellen. Denn Wirklichkeiten lassen sich wohl erdichten, nicht aber Möglichkeiten; diese müssen gewiß sein.
  2. Die Consequenz. Aus dem angenommenen Grunde müssen die Folgen richtig herfließen; sonst wird aus der Hypothese eine blose Chimäre.
  3. Die Einheit. Es ist ein wesentliches Erforderniß einer Hypothese, daß sie nur Eine sei und keiner Hülfshypothesen zu ihrer Unterstützung bedürfe. Müssen wir bei einer Hypothese schon mehrere andere zu Hülfe nehmen: so verliert sie dadurch sehr viel von ihrer Wahrscheinlichkeit. Denn je mehr Folgen aus einer Hypothese sich ableiten lassen, um so wahrscheinlicher ist sie, je weniger, desto unwahrscheinlicher. So reichte z. B. die Hypothese des Tycho de Brahe zu Erklärung vieler Erscheinungen nicht zu; er nahm daher zur Ergänzung mehrere neue Hypothesen an. Hier ist nun schon zu errathen, daß die angenommene Hypothese der ächte Grund nicht sein könne. Dagegen ist das Copernikanische System eine Hypothese, aus der sich Alles, was daraus erklärt werden soll, so weit es uns bis jetzt vorgekommen ist, erklären läßt. Wir brauchen hier keine Hülfshypothesen (hypotheses subsidiarias).

Es giebt Wissenschaften, die keine Hypothesen erlauben, wie z. B. die Mathematik und Metaphysik. Aber in der Naturlehre sind sie nützlich und unentbehrlich.


Anhang.

Von dem Unterschiede des theoretischen und des praktischen Erkenntnisses.

Ein Erkenntniß wird praktisch genannt im Gegensatze des theoretischen, aber auch im Gegensatze des speculativen Erkenntnisses.

Praktische Erkenntnisse sind nämlich entweder

  1. Imperative und in so fern den theoretischen Erkenntnissen entgegengesetzt; oder sie enthalten
  2. die Gründe zu möglichen Imperativen und werden in so fern den speculativen Erkenntnissen entgegengesetzt.

Unter Imperativ überhaupt ist jeder Satz zu verstehen, der eine mögliche freie Handlung aussagt, wodurch ein gewisser Zweck wirklich gemacht werden soll. Eine jede Erkenntniß also, die Imperative enthält, ist praktisch, und zwar im Gegensatze des theoretischen Erkenntnisses praktisch zu nennen. Denn theoretische Erkenntnisse sind solche, die da aussagen: nicht, was sein soll, sondern was ist; also kein Handeln, sondern ein Sein zu ihrem Object haben.

Setzen wir dagegen praktische Erkenntnisse den speculativen entgegen, so können sie auch theoretisch sein, wofern aus ihnen nur Imperative können abgeleitet werden. Sie sind alsdann, in dieser Rücksicht betrachtet, dem Gehalte nach (in potentia) oder objectiv praktisch. Unter speculativen Erkenntnissen nämlich verstehen wir solche, aus denen keine Regeln des Verhaltens können hergeleitet werden, oder die keine Gründe zu möglichen Imperativen enthalten. Solcher blos speculativen Sätze giebt es z. B. in der Theologie die Menge. Dergleichen speculative Erkenntnisse sind also immer theoretisch, aber nicht umgekehrt ist jede theoretische Erkenntniß speculativ; sie kann, in einer andern Rücksicht betrachtet, auch zugleich praktisch sein.

Alles läuft zuletzt auf das Praktische hinaus; und in dieser Tendenz alles Theoretischen und aller Speculation in Ansehung ihres Gebrauchs besteht der praktische Werth unsers Erkenntnisses. Dieser Werth ist aber nur alsdann ein unbedingter, wenn der Zweck, worauf der praktische Gebrauch des Erkenntnisses gerichtet ist, ein unbedingter Zweck ist. Der einige, unbedingte und letzte Zweck (Endzweck), worauf aller praktische Gebrauch unsers Erkenntnisses zuletzt sich beziehen muß, ist die Sittlichkeit, die wir um deswillen auch das schlechthin oder absolut Praktische nennen. Und derjenige Theil der Philosophie, der die Moralität zum Gegenstande hat, würde demnach praktische Philosophie κατ′ εξοχην heißen müßen; obgleich jede andere philosophische Wissenschaft immer auch ihren praktischen Theil haben, d. h. von den aufgestellten Theorien eine Anweisung zum praktischen Gebrauche derselben für die Realisirung gewisser Zwecke enthalten kann.


Quelle:
Gottlob Benjamin Jäsche [Herausg.]: Immanuel Kant′s Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen. 1800.
in:
Gustav Hartenstein [Herausg.]: Immanuel Kant′s Werke. Gesamtausgabe in Zehn Bänden. Erster Band. Leipzig, 1838.

[Startseite]   Kant′s Logik: [Inhalt]   [1. Teil]   [2. Teil]


© 2017 Dr. Rainer Stumpe Valid HTML 4.01 Transitional